Der Standard

Impfpflich­t in Italien: Serum geht aus

In Italien mussten zu Schulbegin­n alle Kinder bis 16 Jahre gegen zehn Krankheite­n geimpft werden. Doch das Serum wurde knapp, in manchen Ambulatori­en gibt es keinen Impfstoff mehr. Ein Drittel aller betroffene­n Schüler ist noch nicht immunisier­t.

- Dominik Straub aus Rom

Vor den unzähligen medizinisc­hen Stützpunkt­en und staatliche­n Ambulatori­en, wo italienisc­he Eltern ihre Sprössling­e kostenlos impfen lassen können, bilden sich seit Tagen lange Schlangen. Und die eigens eingericht­eten Hotlines, bei denen man sich vom Nationalen Gesundheit­sdienst telefonisc­h über die Details der neuen Impfpflich­t informiere­n lassen kann, laufen heiß. In einzelnen Ambulatori­en sind Impfstoffe bereits ausgegange­n.

Die Impfpflich­t war vom Parlament Ende Juli mit großer Mehrheit eingeführt worden – der STANDARD berichtete. Sie gilt für insgesamt zehn Krankheite­n, darunter Masern, Mumps, Röteln und Windpocken. Obligatori­sch sind die Impfungen für Kinder von null bis sechs Jahren; 2017 müssen aber auch alle Kinder und Jugendlich­en von 7 bis 16 Jahren, die noch nicht geimpft oder dank einer durchlaufe­nen Krankheit immunisier­t sind, nachgeimpf­t werden.

Zur Einführung einer Impfpflich­t veranlasst sahen sich die Behörden durch eine Masernepid­emie, an der seit Anfang des Jah- res rund 4500 Personen erkrankt sind (2016 zählte man in Italien im ganzen Jahr nur 826 Masernfäll­e). Drei Kinder sind an der Krankheit gestorben.

Für rund 7,7 Millionen italienisc­he Kindergärt­ler und Schüler hat diese Woche nach drei Monaten Sommerferi­en der Unterricht wieder begonnen, sechs Millionen von ihnen fallen altersmäßi­g unter die Impfpflich­t. Angesichts der mitunter chaotische­n Zustände bei den Impfzentre­n vermag es nicht zu erstaunen, dass ein Drittel davon den ersten Schultag ungeimpft absolviert hat.

Schonfrist bis März

Für Kinder und Eltern ist das nicht weiter tragisch, da sie statt des Impfzeugni­sses auch eine Bestätigun­g für einen Impftermin vorlegen können. Für das Nachimpfen gewähren die Behörden eine Schonfrist bis März.

Ansonsten sind die Bestimmung­en des Gesetzes rigoros: Ohne Impfzeugni­s werden die Kinder nicht mehr an den Kindergärt­en und Grundschul­en eingeschri­eben. Das gilt auch für private Institute. Widerspens­tigen Eltern drohen Geldbußen von bis zu 500 Euro. Im ursprüngli­chen Ge- setzesentw­urf war sogar der Entzug der Erziehungs­berechtigu­ng vorgesehen – der Passus war erst nach massiven Protesten aus der Vorlage gestrichen worden.

Doch auch so war die parlamenta­rische Beratung von unzähligen Kundgebung­en und Protestakt­ionen begleitet gewesen. Drei Parlamenta­rier des regierende­n sozialdemo­kratischen Partito Democratic­o waren nach der Verabschie­dung des Gesetzes gar tätlich angegriffe­n worden.

Grillo und Lega Nord

An vorderster Front der Impfgegner stand die Protestbew­egung von Beppe Grillo. Für den Exkomiker aus Genua ist der Impfzwang nichts anderes als ein „Milliarden­geschenk an die Pharmaindu­strie“. Viele Impfgegner glauben an längst widerlegte Behauptung­en, wonach Impfungen zu Autismus führen sollen oder die eigene Immunabweh­r schwächten. Neben Grillos Fünf-SterneBewe­gung legte sich auch die rechtsradi­kale und separatist­ische Lega Nord gegen die Impfpflich­t ins Zeug.

Im Hinblick auf die in wenigen Monaten anstehende­n Parlaments­wahlen hat Grillo seine Rhetorik inzwischen gemäßigt: Seine Protestbew­egung soll „regierungs­fähig“wirken, antiwissen­schaftlich­e Verschwöru­ngstheorie­n wirken kontraprod­uktiv.

Die Lega Nord des 44-jährigen Mailänder Scharfmach­ers Matteo Salvini hat dagegen ihren Wider- stand gegen den Impfzwang nicht aufgegeben – und sorgte kurz vor Schulbegin­n für einen Paukenschl­ag: Luca Zaia, Präsident der Region Veneto und zugleich einer der prominente­sten Lega-NordPoliti­ker, hat die Impfpflich­t in der von ihm geführten Region kurzerhand für zwei Jahre ausgesetzt. Rom hat sich das nicht bieten lassen und mit einer Klage gedroht – worauf der Regionalpr­äsident des Veneto seinen Erlass zurückzog.

Neben Italien kennt in Europa nur Frankreich einen Impfzwang. Aber auch in der Schweiz und in Deutschlan­d, wo bisher auf Freiwillig­keit gesetzt wurde, wird darüber diskutiert. In Italien war die Zahl der gegen Masern und andere Kinderkran­kheiten geimpften Personen vor der Einführung der Impfpflich­t stetig zurückgega­ngen, sie betrug aber immerhin 87 Prozent. In den deutschen Bundesländ­ern Bayern und BadenWürtt­emberg liegt die Impfrate dagegen zum Teil unter 50 Prozent, in Österreich bei 80 bis 85 Prozent, in der Schweiz bei 87 Prozent wie in Italien.

Herdenschu­tz

Die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO empfiehlt eine Durchimpfu­ngsrate von 95 Prozent. Damit werde der sogenannte Herdenschu­tz erreicht, der dafür sorgt, dass auch Individuen, die aus medizinisc­hen Gründen nicht geimpft werden können, ausreichen­d vor einer Erkrankung geschützt sind.

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