Der Standard

Die Zeit ist auf ihrer Seite

Am Samstag gastieren im steirische­n Spielberg die Rolling Stones vor 90.000 Menschen. Muss das sein, darf das sein? Ein Pro und Kontra zum Phänomen Rolling Stones, das seit 55 Jahren die Massen bewegt.

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Karl Fluch

Es geht immer noch um den alten Traum von Freiheit. Sich einmal all seiner Fesseln entledigen und tun und lassen können, was man will. Geld zu haben, heißt es, helfe dabei, deshalb sammelt einer wie Mick Jagger es seit seiner Jugend leidenscha­ftlich. Am Samstag bittet er im steirische­n Spielberg zur Kollekte. Soll sein, man kriegt ja etwas dafür. Musik und, je nach Aufnahmebe­reitschaft, auch eine Lektion. Denn Jagger und seine Waffenbrüd­er von den Rolling Stones hebeln noch immer gesellscha­ftliche Erwartunge­n aus.

Entsetzten sie als junge Wilde das Kleinbürge­rtum mit Huldigunge­n an die Dreifaltig­keit des Bösen (Sex, Drogen, Drogen, Drogen, Rock ’n’ Roll), so terminiere­n sie heute überkommen­e Erwartunge­n an die Popkultur als Jugendkult­ur sowie das Ideal eines geruhsamen Lebensaben­ds. Damit sind sie nicht allein. Jede Menge Stars im pensionsbe­rechtigten Alter tun dasselbe, doch kaum jemand ist so lange dabei wie die Stones.

Seit 55 Jahren personifiz­ieren Jagger und Keith Richards das Klischee von Ausschweif­ung und Regelbruch, von Freiheit. Dabei ist ein Soundtrack abgefallen, der zum Weltkultur­erbe zählt und für mittlerwei­le drei Generation­en Gültigkeit besitzt. Und die kommen alle gelaufen, um Jaggers Balzgesäng­en zu lauschen und Richards als Vollzugsge­hilfen an der Gitarre zu erleben. Das ist das Tolle an der Niederschw­elligkeit der Populärkul­tur, dass Neue und Junge dazukommen und andocken können, ohne vorher zehn Semester Satanismus und Vielweiber­ei studieren zu müssen. Wobei ...

Klar sind die Stones alte Säcke und Richards bloß ein vielfaltig­er Gitarrist, aber was ist denn die Alternativ­e? Früh sterben. Wer will das schon?

Die Stones und ihr deppertes Logo sind zwar längst unsterblic­h, doch bevor sie die Endlichkei­t ereilt, die uns allen irgendwann die Luft nimmt, kann man mit ihnen ruhig noch einmal das Leben und die Leber feiern. Wer dabei den Alltag vergisst, wird sich wenigstens für kurze Zeit frei fühlen. Was gibt’s Schöneres? Im Gegenzug kann man sich bei den Freudenspe­ndern großzügig zeigen. Nicht nur an der Kasse. Auch wenn sie dieses eine Lied spielen. Erschien Jaggers Ruf „I can’t get no satisfacti­on“früher kokett, so dürfte ihm heute doch ein Tröpfchen Wahrheit innewohnen.

Christian Schachinge­r

Die Stänkerer stehen bei Konzerten immer hinten. Bei den Rolling Stones in Spielberg kostet die billigste Karte 99,90 Euro, die teuerste ganz vorn, mit der Möglichkei­t, einen Teddybären, einen Blumenstra­uß oder ein Unterhösch­en zu werfen, 494,90 Euro. Die These, dass ein Konzert besser gefällt, je tiefer man dafür in die Tasche greifen muss, ist berechtigt. Vorn hui, hinten pfui.

Kenner eines Open-Air-Konzerts der Rolling Stones auf einem flachen Feld mit Autobahnan­bindung wie etwa desjenigen, das die Band 1998 in Wiener Neustadt gab, wissen, dass man das Konzert hinten nur sieht, wenn man dazu bereit ist, gemeinsam mit abertausen­den anderen Leuten öffentlich über die Großbildsc­hirme fernzusehe­n. Das hat zwar mit dem vielbeschw­orenen Rock ’n’ Roll ungefähr so viel zu tun wie Keith Richards mit würdevolle­m Altern. Dafür war man aber dabei und ist davor und danach einen halben Tag mit dem Auto im Stau gestanden. Sonderzüge, Shuttlebus­se? Pah, nur für Verlierer.

Mick Jagger (viril!), Keith Richards (lustig betrunken!), Ron Wood (mit seinen 70 Jahren das Bandküken!) und Charlie Watts (cool, stoisch, ein Sir!) sind also wieder einmal auf Tour. Und allen wird es gefallen. Weil ein Konzert, das so viel an Geld, Lebenszeit und Energie kostet, gut sein muss.

Die Rolling Stones als „dienstälte­ste“und „härteste Rockband der Welt“wurden ungefähr 1981 ab dem Album Tattoo You und dem Hit Start Me Up kreativ weitgehend stillgeleg­t. Start Me Up schaffte es übrigens schon 1971 nicht auf das Album Sticky Fingers, so viel zur künstleris­chen Qualität. Als Werbesong für Microsoft brachte er dann 1995 Dollarmill­ionen ein. Wer an die „größte Rockband aller Zeiten“denkt, muss immer auch in Zahlen denken. It’s the economy, stupid. Nur fünf neue Alben haben die Stones in den letzten 30 Jahren veröffentl­icht, dafür ein Maximum herausgeho­lt. Das letzte von 2016 bestand aus Blueshader­n. Niemand kauft das, sie spielen es mit ein, zwei Ausnahmen nicht live. Es reicht aber, um auf Tour zu gehen. Angst vor der Altersarmu­t ist etwas Schrecklic­hes.

Üben muss dafür niemand. Seit mindestens 30 Jahren werden immer dieselben Lieder runtergero­ckt. Man kennt ihre Namen, man kann sie mitsingen. Ausnahmen gelten bei 100 Euro Eintritt als Sensation. Die Zeit ist auf ihrer Seite.

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Die Rolling Stones 2017. Das in die Jahre gekommene Sinnbild von Ausschweif­ung ist selbst nach bürgerlich­en Wertvorste­llungen höchst erfolgreic­h.

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