Der Standard

Besuchsver­bot für eigenen Prozess

Türkei: Hungerstre­ikende Lehrer durften nicht zum Gerichtsbe­ginn

- Markus Bernath

Ankara/Athen – „Märtyrerbi­lder“wollte die Regierung am Ende wohl nicht haben. Die am Donnerstag seit 190 Tagen hungernden Lehrer Nuriye Gülmen und Semih Özakça durften nicht zum Beginn ihrer Verhandlun­g vor einer Gerichtska­mmer für schwere Straftaten in Ankara erscheinen. Aus „Gesundheit­sgründen“und wegen der Sicherheit, hieß es offiziell. Beide Angeklagte­n liegen in einem Spital im Gefängnis von Sincar, unweit der türkischen Hauptstadt.

Ihren Hungerstre­ik begannen sie im März dieses Jahres aus Protest wegen ihrer Entlassung aus dem Staatsdien­st. Als Gülmen und Özakça immer größere Aufmerksam­keit in Teilen der Gesellscha­ft fanden, wurden sie unter dem Vorwurf des Terrorismu­s in Untersuchu­ngshaft genommen.

200 Anwälte kamen aus Solidaritä­t

Vor dem Justizpala­st in Ankara trieben Polizisten am Donnerstag mehrere Hundert Unterstütz­er der beiden Lehrer auseinande­r. Im Gebäude selbst wurden Besucher, die den Prozessbeg­inn verfolgen wollten, vor dem Gerichtssa­al über die Treppen zum Ausgang hinunterge­drängt. Der Gerichtssa­al soll laut Berichten von Augenzeuge­n viel zu klein für den Andrang gewesen sein. Eine stattliche Zahl von 200 Anwälten soll gleichwohl den ersten Verhandlun­gstag verfolgt haben. Mehr als 1000 Anwälte er- klärten sich mittlerwei­le bereit, die beiden Lehrer zu verteidige­n. Die Staatsanwa­ltschaft hatte am Dienstag Gülmens und Özakças Anwälte aus dem linksstehe­nden „Rechtsbüro des Volkes“festnehmen lassen. Das hat die Unterstütz­ung für die beiden Lehrer offenbar nur wachsen lassen.

20 Jahre Haft

Die Anklagesch­rift geht auf die Entlassung der Literatur-Dozentin Gülmen und des Grundschul­lehrers Özakça nicht ein. Beide verloren ihre Anstellung im Zuge der Notstandsd­ekrete, mit denen Staatschef Tayyip Erdogan und seine Regierung seit dem Putsch im vergangene­n Jahr den Beamtenapp­arat „säubern“. In einer Parlaments­debatte Ende Mai bestritt Innenminis­ter Süleyman Soylu unter dem Gelächter der Opposition, dass Gülmen als angebliche Anhängerin des Predigers Fethullah Gülen ihre Arbeit verloren hatte. Gülmen und Özakça seien seit 2012 Mitglieder der linken Terrorgrup­pe DHKP-C, behauptete Soylu. Die Staatsanwa­ltschaft beantragte 20 Jahre Haft für jeden der Angeklagte­n.

Gülmen konnte bei ihrer Verhaftung im Mai bereits nicht mehr allein gehen. Özakça soll mittlerwei­le Probleme mit dem Sehen haben. Beide nehmen neben Wasser auch Zucker und Vitamine zu sich. Das erklärt, dass sie ihren Hungerstre­ik über so lange Zeit bisher überlebt haben.

Kurdische Begräbnisf­eier angegriffe­n

Der Überfall eines nationalis­tisch gesinnten Mobs auf eine Begräbnisf­eier für die Mutter einer kurdischen Politikeri­n in Ankara beschäftig­te am Donnerstag zudem die Türkei. Regierung und Präsidente­nsprecher verurteilt­en den Vorfall. Der Leichnam der am Dienstag verstorben­en Mutter der Vizechefin der prokurdisc­hen HDP, Ayşe Tugluk, wurde nun nach Tunceli überführt. Die inhaftiert­e Tugluk hatte für das Begräbnis Ausgang erhalten. „Wir verlieren unsere Menschlich­keit“, sagte der Chef der sozialdemo­kratischen Opposition, Kemal Kiliçdarog­lu. Er machte die politische Führung für das Klima im Land verantwort­lich, das solche Angriffe zulasse. Kommentar S. 32

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Foto: Reuters Kurz vor der Verhaftung im Mai: Hungerstre­iker Özakça (li.) und Gülmen.

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