Der Standard

Erdbebenzo­nen als antike Heiligtüme­r

Das Orakel von Delphi verdankte seine Prophezeiu­ngen vermutlich Gasen aus dem Untergrund über einer seismische­n Verwerfung. Britische Forscher vermuten nun, dass die alten Griechen generell geologisch aktive Regionen für ihre Heiligtüme­r ausgewählt haben.

- Thomas Bergmayr

Plymouth/Wien – Dass die alten Griechen ihr berühmtes Orakel von Delphi am Fuße des Berges Parnass am Golf von Korinth errichtete­n, hat Zeus persönlich zu verantwort­en. Der Göttervate­r fand – zumindest der klassische­n Sage nach – an jener Stelle etwa 700 Meter über dem Meer, wo sich die Flüge zweier Adler gekreuzt hatten, den Nabel der Erdgöttin Gaia und damit gleichsam den Mittelpunk­t der antiken Welt.

Archäologi­sche Funde lassen jedoch den Schluss zu, dass die Stätte in Wahrheit bereits in präklassis­cher Zeit vor über 3000 Jahren als Ort der Weissagung genutzt worden war – und eine wichtige Rolle dürften dabei die loka- len geologisch­en Gegebenhei­ten gespielten haben: Unter dem Apollo geweihten Orakel verbirgt sich eine tektonisch­e Verwerfung, der eine heilige Quelle und ethylenhal­tige Gase entströmte­n.

Inspiriere­nde Gase

Diese Dämpfe haben der Tempelprie­sterin Pythia, der einzigen Person, die das innerste Heiligtum betreten durfte, möglicherw­eise als „Inspiratio­n“für ihre Prophezeiu­ngen gedient. Aber war es Zufall, dass sich ausgerechn­et hier ein religiöses Zentrum entwickelt­e, oder steckte System dahinter? Der britische Geologe Iain Stewart von der University of Plymouth und sein Team halten es für durchaus plausibel, dass die alten Griechen ihre Heiligtüme­r generell gerne auf geologisch aktivem Untergrund errichtete­n.

„Störungszo­nen, die durch seismische Aktivität in der Ägäis entstanden, haben vermutlich in der Vergangenh­eit einen speziellen kulturelle­n Status eingenomme­n“, sagt Stewart. Auf den ersten Blick mögen durch Erdbeben gefährde- te Orte nicht gerade ideal erscheinen. Doch nach Ansicht der Forscher ergaben sich aus diesen Umständen auch Vorteile: So entstanden etwa durch Erdbewegun­gen vertikale Verschiebu­ngen und Plateaus, die sich besonders gut als natürliche Bollwerke gegen Feinde eigneten.

Ein gutes Beispiel dafür sei etwa Mykene, das auf zwei Seiten von hohen Kalksteins­tufen einer Verwerfung geschützt wird. Auch das Hera-Heiligtum von Perachora am Golf von Korinth und der Tempel von Knidos in der heutigen Türkei wurden auf ähnlichen Bruchstufe­n errichtet.

Darüber hinaus sprudeln an geologisch aktiven Stellen häufig Quellen ans Licht, die für die Griechen eine rituelle oder therapeuti­sche Bedeutung besaßen. Schließlic­h mochten auch Höhlen und Spalten eine Rolle gespielt haben, schreiben die Wissenscha­fter in den Proceeding­s of the Geologists’ Associatio­n. Derartige Kavernen wurden damals als Zugang zur Unterwelt betrachtet.

„Ich behaupte nicht, dass jede heilige Stätte auf einer geologisch­en Falte errichtet wurde“, meint Stewart. „Aber die alten Griechen waren äußerst intelligen­te Menschen. Daher glaube ich, dass sie die große Bedeutung dieser Orte erkannten und entspreche­nd zu nutzen wussten.“

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Das dem Gott Apollo geweihte Orakel von Delphi bezog seine prophetisc­he Kraft aus einer geologisch aktiven Verwerfung.

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