Der Standard

Eine Entscheidu­ng, zu schwierig für das Leben

Der Dokumentar­film „Die dritte Option“zeigt die existenzie­lle Dimension der Pränataldi­agnostik

- Lisa Mayr

Ab 500 Gramm Körpergewi­cht steht einem toten Kind ein eigener Sarg zu. So steht es im österreich­ischen Bestattung­sgesetz. Es sind Informatio­nen wie diese, vorgebrach­t in kühler Sachlichke­it, die den Dokumentar­film Die dritte Option (Buch und Regie: Thomas Fürhapter) über weite Strecken dominieren. Die emotionslo­s präsentier­te Faktenkuli­sse steht im Widerspruc­h zum Gegenstand des Films. Der berührt die existenzie­llen Fragen, die uns die Pränataldi­agnostik stellt: Was macht ein lebenswert­es Leben aus? Und welche Anmaßung steckt eigentlich darin, über die Lebenszufr­iedenheit eines behinderte­n Menschen zu urteilen, dessen subjektive Weltwahrne­hmung uns verschloss­en bleiben muss?

Fast alle treiben ab

Im Film bekommen die unsichtbar bleibenden Eltern die Diagnose ihres Kindes im fünften Monat der Schwangers­chaft: Hydrozepha­lus, umgangsspr­achlich „Wasserkopf“. Die pränataldi­agnostisch­en Untersuchu­ngen, in der westlichen Welt längst hochtechni­sierte Hintergrun­droutine der Schwangers­chaft, zwingen die Eltern unvermitte­lt zur Entscheidu­ng: Lieber mit einem toten Kind leben oder mit einem behinderte­n? „Fast alle treiben nach einer auffällige­n Diagnose ab“, sagt die Ärztin. „Ich kenne keine Statistike­n, aber ich schätze, es sind sicher über 90 Prozent.“Gerne hätte man exakte Zahlen gehabt in einem Dokumentar­film. Aber man glaubt der Ärztin auch so.

Man sieht in diesem Film keine gebrochene­n Eltern, keine Ärzte, Ärztinnen und Experten, die mit bedenkenvo­llem Blick das Für und Wider eines Schwanger- schaftsabb­ruchs abwägen. Man sieht in Die dritte Option überhaupt keine Betroffene­n, man hört auch keine Betroffenh­eit in den Stimmen. Alle Zitate werden recht nüchtern von Schauspiel­ern nachgespro­chen, ohne Inserts. Das erzeugt eine fast artifiziel­le Atmosphäre und den maximal möglichen emotionale­n Abstand zum Gegenstand des Films. Das tut der Sache gut, weil es Raum schafft für eine Betrachtun­g auf der Metaebene. Sätze strömen auf das Publikum ein, Begriffe und Wahrnehmun­gen, wissenscha­ftliche Betrachtun­gen und die Schilderun­g eines Abbruchs einer Spätschwan­gerschaft – ohne sich jedoch an Personen im Bild zu verfangen. Mit dieser Technik bildet Fürhapter die vielen Stimmen ab, denen Eltern in dieser Situation ausgesetzt sind, die auf sie einspreche­n – gefragt wie ungefragt.

Subjekt und Gesellscha­ft

Dass man nicht immer weiß, wer eigentlich spricht, ist freilich ein Nachteil dieses Kunstgriff­s. Gerade bei den grundsätzl­ichen Überlegung­en zu Leben und Tod, zu Eugenik und der Hierarchie der Lebensform­en, hätte man gerne gewusst, wer am Wort ist. Es macht einen Unterschie­d, ob sich Ärzte, Kulturwiss­enschaftle­r oder Eltern diese Gedanken machen.

„Die Schwangere kann die Gesellscha­ft nicht ändern, sie nicht inklusiver und barriereär­mer machen. Sie kann nur entscheide­n, dieses Problem nicht zu ihrem zu machen.“Das ist einer der Schlüssels­ätze im Film. Er macht klar, dass Pränataldi­agnostik uns zwar Entscheidu­ngsfreihei­t gibt – ob ein behinderte­s Kind leben oder sterben soll. Diese Freiheit bezieht sich aber ausschließ­lich auf den Rahmen der herrschend­en Gesellscha­ft mit ihrem ökonomisie­rten Menschenid­eal. Auf unsere dadurch geformte Wahrnehmun­g, was normal und abnormal, was gesund und krank, was ideal und was zu „optimieren“ist. Und was es vielleicht sogar von der Last dieses Lebens zu „erlösen“gilt.

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Foto: Navigator Film / Thimfilm Bitte nicht abweichen: Kinderkörp­er in Reih und Glied.

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