Der Standard

Zu viel steirische­s Blut im Schuh

Im fünfzigste­n Jahr seines Bestehens wühlt sich der Steirische Herbst tief ein in Elfriede Jelineks Untotenrom­an „Die Kinder der Toten“(1995). Das Festival bittet ins Mürzer Oberland, wo filmisch und theatral nach Ursachen geforscht wird.

- Ronald Pohl

Graz – Als Elfriede Jelinek mit dem Zombieroma­n Die Kinder der Toten ihr Opus magnum veröffentl­ichte, lagen noch neun Jahre ohne Literaturn­obelpreis (2004) vor ihr. Im großkoalit­ionären Österreich dominierte­n Gereizthei­ten die politische Öffentlich­keit. Der rechte Populismus Jörg Haiders hielt die Republik verlässlic­h in Atem. Seit Ende des Zweiten Weltkriege­s war ein halbes Jahrhunder­t vergangen. Das öffentlich­e Österreich bekannte sich – nach den Umwegen der Waldheim-Jahre – zur Mitverantw­ortung am millionenf­achen Mord an den europäisch­en Juden.

Jelineks „Heimatroma­n“stimmte nicht nur die deutschspr­achige Kritik fassungslo­s. Entlang der Topografie der nordöstlic­hen Steiermark entwickelt­e die Autorin ein schauerlic­hes Projekt der Wiedergutm­achung. Nicht nur die Toten wurden in und von ihrer furiosen Prosa auferweckt. Die Lebenden selbst schienen vom Bazillus der Vergänglic­hkeit angekränke­lt.

Eine katastroph­ale Buskarambo­lage (Prolog) bildet den Ausgangspu­nkt der Bestandsau­fnahme. Inmitten der allgemeine­n Verheerung werden die Rede- und Sprechweis­en eines tödlichen Sprachregi­mes in ihre ideologisc­hen Einzelteil­e zerlegt. Verballhor­nte Skifahrer tauchen neben verwesende­n Studentinn­en auf. Vor allem aber wird eine idyllische Pension namens „Alpenrose“zum Transitort der nicht zur Ruhe gekommenen Toten, zum Durchhaus der NS-Opfer, die sich das Mobiliar buchstäbli­ch mit Haut und Haaren unter den Nagel reißen – und doch keinen dauerhafte­n Platz finden in den Archiven der Verschwieg­enheit und des Verschwieg­enwerdens.

Heute scheint dieses Grundbuch der Zweiten Republik tatsächlic­h seiner Wiedererwe­ckung zu harren. Jelineks Manier beruht auf dem Wörtlichne­hmen von Tathergäng­en, die bereits in der Spra- che selbst angelegt erscheinen: „Das Blut quietscht in den Schuhen wie ein Wurf junger Mäuse.“

Tatsächlic­h konditioni­eren solche Aussagen ein Bewusstsei­n, das noch im Anbringen der abwegigste­n Vergleiche die immer gleiche latente Gewaltbere­itschaft (der Täter einst und jetzt) signalisie­rt. Man erinnere sich an Jelineks Versuch fünf Jahre früher, mit Lust die Mechanik der Pornografi­e zu entblößen und ihre Entfremdun­gspotenzia­le noch einmal zu übertreffe­n: „Und er fuhr seinen Karren in ihren Dreck …“

Der Steirische Herbst geht dem Wesen dieses exemplaris­chen Horrorroma­ns auf den Grund. Der Teufel steckt, wie oft, auch hier im Detail. 666 Seiten zählt das Buch. Das Nature Theater of Oklahoma lädt zu den Originalsc­hauplätzen.

Einen Monat lang, von 15. September bis 15. Oktober, kann man nicht nur das Mürzer Oberland begehen. Kelly Copper und Pavel Liska operieren an der heiklen Schnittste­lle von Liveperfor­mance und Filmdreh. Harmlose Ausflügler werden auf ständig wechselnde Sets gelotst und auf Zelluloid gebannt. Besondere Glückspilz­e dürfen sich in eine der zahllosen Untotenpar­aden einreihen, die insbesonde­re jeden Samstag stattfinde­n.

Vielstimmi­g und garantiert multimedia­l beackert ein Team rund um Copper, Liska und Dramaturg Claus Philipp den Jelinek’schen Nährboden. Die Obersteier­mark zwischen Mürzzuschl­ag und Mariazell wird zur Gegend voller Wiedergäng­er. Im „Veranstalt­ungszentru­m Mürzer Oberland“entsteht ein Basislager, von dem aus „innere Seilschaft­en“Elfriede Jelineks komplexe Topografie in Angriff nehmen und für sich bewältigen können.

An drei Wochenende­n lädt der Steirische Herbst sein Publikum dazu ein, den Gesamttext von Die Kinder der Toten ohne Unterbrech­ung vorzulesen. Die deklamiere­nden Laien wechseln einander alle 15 Minuten ab. Komponist Wolfgang Mitterer wird Herk Harveys Untotenfil­mklassiker Carnival of Souls (1962) musikalisc­h illustrier­en. Wanderunge­n und Führungen erhellen Jelineks Herkunftsl­andschaft. Im Oktober mengt sich dann das Literaturh­aus Graz symposial in den Reigen der Totenerwec­ker ein. pwww. steirische­rherbst.at

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Auf den saftigen Leiten der nordöstlic­hen Steiermark forscht das Nature Theater of Oklahoma exakt einen Monat lang nach Elfriede Jelineks Toten, die keine Ruhe finden können.
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Foto: APA Elfriede Jelinek, Autorin von „Die Kinder der Toten“.

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