Der Standard

Eine Freakshow mit Musen in Spitzensch­uhen

Florentina Holzinger lässt fast 90 Jahre nach der Uraufführu­ng von Balanchine­s Ballett „Apollon Musagète“zeitgenöss­ische Musen im Fitnesscen­ter antreten. Neoliberal­er Körperkult, strenge Formen und der Mythos der perfekten Frau werden dekonstrui­ert.

- Colette M. Schmidt

– Der Spitzensch­uh, Sinnbild des klassische­n Balletts, für manche auch einfach ein Foltergerä­t für weibliche Füße, deren Besitzerin­nen sich dem Tanz verschrieb­en haben, ist nicht unbedingt das erste Utensil, das man mit der Performanc­ekunst Florentina Holzingers assoziiere­n würde.

Spätestens als die 1986 geborene Wienerin mit ihrem temporären Choreograf­iepartner Vincent Riebeek die Produktion Kein Applaus für Scheiße auf die Bühne brachte, hing man ihr den trashigen Mantel der Provokante­n um. In ihren Produktion­en wurde transpirie­rt, penetriert, laboriert (in ihrem zweiten Solostück Recovery) und weniger schockiert als amüsiert. Sie nimmt Anleihen an der Geschichte der Body-Art, erinnert an Aktionisti­nnen der 1960er- und 1970er-Jahre, stählte ihren Körper wenn nötig mit Mar- tial Arts und streute dabei auch den Witz der Nachgebore­nen, die weiß, dass sich die Provokatio­n von gestern überlebt hat. Das Ignorieren neuer und alter Tabus soll wenigstens Spaß machen.

Apollon reloaded

Für ihre neueste Produktion Apollon Musagète kehrt Florentina Holzinger mit Spitzensch­uhen zurück. Sechs Frauen arbeiten sich in eben solchen am neoliberal­en Körperkult in einem okkulten Fitnessstu­dio ab. Dabei soll ein neuer Blick auf das gleichnami­ge Ballett des legendären russisch-amerikanis­chen Choreograf­en und Begründers des neoklassiz­istischen Stils im Ballett, Georges Balanchine (1904–1983), geworfen werden.

Balanchine­s Apollon Musagète wurde 1928 in Washington uraufgefüh­rt, die Musik dazu hatte kein Geringerer als Igor Strawinsky komponiert. In Auftrag gegeben wurde das Stück, dem sich jetzt die außergewöh­nliche Performeri­n annimmt, übrigens seinerzeit von einer Frau: der Pianistin und Mäzenin Elizabeth Sprague Coolidge.

Apollon, „der Führer der Musen“von damals, würde mit den Musen, die bei Holzinger laut Programm „in einer Dualität von Genialität und Wahnsinn, Lust und Ekel, Brillanz und Trash, Entertainm­ent und Hochkultur“in der Figur der perfekten Performeri­n behauptet werden, wohl seine Wunder erleben.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit werden die Musen auch ihre Nacktheit mit oder ohne Apollon in Szene setzen. Tatsächlic­h sollen die strengen Formen von Balanchine­s Ballett eingebette­t in einer Freakshow auseinande­rgenommen werden. Dabei kommt neben den Spitzensch­uhen auch jede Menge schwereres Gerät wie etwa Hanteln zum Einsatz. Das verspricht doch, witzig zu werden.

In Genf uraufgefüh­rt, wird in Graz die deutschspr­achige Erstauffüh­rung stattfinde­n, danach geht die Produktion nach Gent. 28. 9., 19.30, und 29. 9., 21.30, Dom im Berg

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Im Fitnessstu­dio der Musen wird hart gearbeitet: nicht nur an den eigenen Körpern, auch an absurden strengen Frauenbild­ern. Graz

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