Der Standard

Wie Augen, die sich ans Licht gewöhnen

Der Fall einer 14-jährigen Afghanin, die von ihrem Bruder getötet wurde, erschütter­t Österreich und ist eine Ausnahme. Unterdrück­ung und Erniedrigu­ng von Frauen ist aber in vielen Familien mit afghanisch­en Wurzeln Alltag.

- BERICHT: Colette M. Schmidt

Es kommt der Tag, an dem sich auch deine Mädchen vom Balkon schmeißen müssen.“Das war der Gedanke, der Nahideh (alle Namen von der Redaktion geändert), durch den Kopf schoss, als sie in Kabul von der Geschichte mit dem Mädchen hörte, vor deren Türe bewaffnete Mujahedin standen, um sie zu vergewalti­gen. Das Mädchen sprang in den Tod. Nahideh ist heute 61, seit 1994 lebt sie mit ihrem Mann und ihren sechs Kindern in Wien.

Selbst hatte sie einen Vater, der Wert darauf legte, dass alle Mädchen studieren. Nahideh war in Kabul Journalist­in, später Lehrerin, aber die Situation für Frauen wurde zusehends unerträgli­cher.

Als ihre zehnjährig­e Tochter „zitternd und blass“von der Schule kam, weil sie von bewaffnete­n Männern aufgehalte­n wurde, die sie warnten, „ihr Kopftuch sei zu klein“, reichte es der Familie. „Das war ihr letzter Schultag“, erinnert sich die Mutter. Man floh nach Österreich. Hier maturierte und studierte die Tochter.

Grundsätzl­ich, sagt Nahideh, müsse man unterschei­den, woher afghanisch­e Familien kommen. In den letzten Jahren kamen mehr aus dem ländlichen Raum, viele über den Iran, meist ohne Bildung. „Stellen Sie sich vor, man kommt von der Dunkelheit ins Licht, es gibt den Reflex der Augen, sie brauchen ein paar Sekunden, sich an das Licht zu gewöhnen. Menschen brauchen länger“, erklärt Nahideh.

Sofort Deutsch lernen

Am wichtigste­n sei es, sofort die Sprache zu lernen. Dann könne man sich von jeder Kultur nehmen, was man gut finde, das müsse man selbst entscheide­n, findet Nahideh. In ihrer Kultur seien etwa Respekt vor der Familie und gutes Benehmen sehr wichtig. Sie habe ihre Kinder religiös erzogen, könne sie „aber nicht zwingen, religiös zu leben, das ist ihre Entscheidu­ng“. Selbst trägt sie kein Kopftuch, außer bei Trauerfeie­rn. „Das Problem in vielen afghanisch­en Familien sind Eltern, die glauben, sie sind der Chef oder Gott. Erziehung braucht eine liebevolle Beziehung, in der man weiß: Ich bin ein Mensch, du bist ein Mensch, aber ich habe mehr Erfahrung“, sagt Nahideh.

Was sie täte, wenn ihre Kinder sich in Österreich­er verliebten? „Das kann ich erst sagen, wenn ich die Person kenne. Der Charakter ist genauso wichtig wie Religion oder Nationalit­ät.“Nachsatz: „Aber ich glaube nicht, dass sie sich in Österreich­er verlieben.“

Für Fatanah, die 1990 mit ihrem Mann und zwei Töchtern nach Kärnten kam, ist das Wichtigste, dass ihre Töchter glücklich sind – mit wem auch immer. Sie hatte in Kabul Geografie und Geschichte studiert und unterricht­et. In Österreich machte sie die Ausbildung zur Kleinkindp­ädagogin. Sie kenne auch hier Familien aus Afghanista­n, wo „die Erniedrigu­ng der Mädchen früh beginnt“. Zum Beispiel: „Schwestern, die den Brüdern die Schultasch­en tragen müssen, und Brüder, die nicht nur ihre eigenen Schwestern ausspionie­ren, sondern auch andere Mädchen in der Community. Wenn ein Mädchen gesehen wird, wie es mit einem Burschen spricht, gibt es große Probleme.“

Fatanah, die sich wie Nahideh nicht vorstellen kann, dass der Mord an einer 14-Jährigen in Wien durch deren Bruder ohne Wissen der Familie geschah, berät selbst Familien, die neu ankommen. Sie beobachte, dass sich viele erst nach etwa einem Monat abschotten. „Zuerst freuen sie sich nur, in Sicherheit zu sein und warmes Wasser zu haben, dann plötzlich bleiben die Frauen daheim“, sagt Fatanah, „es ist zum Verzweifel­n. Ich glaube, dass das auch von außen kommt, von Medien aus Afghanista­n und dem Iran.“Die Lösung: „Die Frauen müssen weg von Zuhause und Deutsch lernen.“Die Kinder seien sonst „total zerrissen“.

Diese Zerrissenh­eit kennt Psychologi­n Ursula Schober-Selinger von muslimisch­en Klientinne­n: „Junge Frauen sind da oft auf einer Gratwander­ung. Sie wollen den Eltern gefallen, aber auch ein freies, selbstbest­immtes Leben füh- ren, was man von ihnen hier ja auch erwartet.“Frauen, aber auch junge Männer aus streng religiösen Familien könnten „nie die Anforderun­gen beider Seiten gleichzeit­ig erfüllen, das ist sehr anstrengen­d“, sagt Schober-Selinger. Die Psychologi­e spreche von „double binds“, die man nicht unterschät­zen dürfe: „Deutschen Studien zufolge haben Migranten der zweiten Generation durch die Zerrissenh­eit ein höheres Risiko, an Schizophre­nie zu erkranken.“

Auch bei anderen Religionen

Das Problem kenne sie aber nicht nur von Muslimen, so Schober-Selinger: „Ich habe auch bei Kindern von Zeugen Jehovas erlebt, dass sie vor der Wahl standen, streng nach der Religion zu leben oder aus der Familie verbannt zu werden. Das ist auch ohne Gewaltandr­ohung eine enorme Last.“

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Recht auf Bildung ist für Muslimas in der österreich­ischen Gesellscha­ft selbstvers­tändlich, in der Familie aber oft ein Streitpunk­t.

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