Der Standard

„Es gibt kein Recht auf geschlosse­ne Grenzen“

Der Schweizer Philosoph Andreas Cassee erklärt, warum er für globale Bewegungsf­reiheit eintritt, wieso wir uns auch einmal in die Lage eines abgewiesen­en Flüchtling­s versetzen sollten und weshalb eine Obergrenze für Flüchtling­e ethisch problemati­sch ist.

- Lisa Nimmervoll INTERVIEW:

STANDARD:

„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“, hat der deutsche Liedermach­er Reinhard Mey gesungen. Sie möchten diese Freiheit quasi für alle Menschen auf den Boden, auf die Erde holen, denn Sie fordern offene Grenzen und globale Bewegungsf­reiheit. Heißt das: Weg mit allen nationalen Grenzen? Cassee:

Gegen die Existenz von Grenzen habe ich nichts einzuwende­n. Zwischen deutschen oder österreich­ischen Bundesländ­ern existieren ja auch Grenzen, die festlegen, wo welche Jurisdikti­on gilt. Eine andere Frage ist, ob an diesen Grenzen Grenzwächt­er stehen, ob also die Bewegung von Menschen über territoria­le Gren- zen kontrollie­rt wird. Meine Ansicht ist, dass es aus ethischer Perspektiv­e kein Recht auf geschlosse­ne Grenzen gibt.

STANDARD:

War der Herbst 2015, als hunderttau­sende Menschen unkontroll­iert über die Balkanrout­e vor allem nach Deutschlan­d und Österreich gekommen sind, ein Vorläufer einer moralisch gerechtfer­tigten „globalen Bewegungsf­reiheit“, wie Sie sie sich vorstellen? Cassee:

Inzwischen wird ja wieder sehr stark kontrollie­rt an den europäisch­en Außengrenz­en und zunehmend auch extraterri­torial, also bereits, bevor Menschen die europäisch­e Grenze erreichen, beispielsw­eise in Libyen. Aus moralische­r Sicht war es erfreulich, dass 2015 mehrere Hunderttau­send Menschen in ein sicheres Land ihrer Wahl einreisen konnten. Die Abschottun­g, die aktuell stattfinde­t, halte ich für sehr problemati­sch. Es gibt keine Rechtferti­gung dafür, Menschen daran zu hindern, sich vor Krieg und Verfolgung in Sicherheit zu bringen. Aber auch Menschen, die keine Flüchtling­e im Sinne des geltenden Rechts sind, haben meines Erachtens einen Anspruch, sich frei zu bewegen. Wenn es um innerstaat­liche Mobilität geht, anerkennen wir ja bereits, dass die Selbstbest­immung über den eigenen Wohnort ein hohes Gut ist. Wenn Sie von Wien nach Graz ziehen möchten, müssen Sie niemanden um Erlaubnis bitten, Sie müssen nicht darlegen, dass Sie in Wien politisch verfolgt sind, sondern Sie dürfen selbst über ihren Wohnort entscheide­n. Denselben Grundsatz sollten wir im Umgang mit internatio­naler Mobilität akzeptiere­n. Zudem tragen Einwanderu­ngskontrol­len wesentlich zur Zementieru­ng globaler Ungleichhe­it bei. Wer die „richtige“Staatsbürg­erschaft hat, hat massiv bessere Lebensauss­ichten als Menschen mit der „falschen“Staatsbürg­erschaft.

STANDARD:

Tatsächlic­h haben die meisten dieser Menschen aber nur ein paar wenige EU-Länder als „Land ihrer Wahl“auserkoren. Gibt es nicht auch Grenzen der Aufnahme- und Integratio­nsfähigkei­t, wo ein Staat zum Schutz seiner Staatsbürg­erinnen und Staatsbürg­er sagen muss, es können eben doch nicht alle, die das gern möchten, zu uns kommen? Cassee:

Das Recht auf globale Bewegungsf­reiheit, für das ich argumentie­re, ist kein absolutes Recht. Auch die innerstaat­liche Bewegungsf­reiheit darf ja vorübergeh­end eingeschrä­nkt werden, wenn das ein verhältnis­mäßiges und notwendige­s Mittel ist, um andere, gewichtige­re, Rechte zu schützen. Einschränk­ungen der Bewegungsf­reiheit müssen aber aus einer unparteiis­chen Perspektiv­e akzeptabel sein. Wenn wir uns vorstellen, wir wüssten nicht, ob wir in der Haut des abgewiesen­en Flüchtling­s stecken oder in der Haut einer Bürgerin eines der Länder, die jetzt die Grenzen dichtmache­n, würden wir dann akzeptiere­n, dass eine Kapazitäts­grenze erreicht ist? Ich glaube nicht, dass wir im Moment an einem Punkt sind, an dem wir aus einer solchen unparteiis­chen Perspektiv­e sagen können, dass die europäisch­en Länder ihre Kapazitäts­grenze erreicht haben. Denn, und das ist wichtig, Kapazitäte­n sind immer auch abhängig von Entscheidu­ngen darüber, wie viel in entspreche­nde Infrastruk­tur investiert wird. Bevor wir die Bewegungsf­reiheit antasten oder sogar das Recht von Flüchtling­en, in ein sicheres Land einzureise­n, sollten wir über höhere Steuern für die sehr gut Verdienend­en oder über eine Vermögenss­teuer nachdenken.

STANDARD:

In Österreich gibt es eine Obergrenze für Flüchtling­e, 2016 lag sie bei 37.500 pro Jahr, heuer sollen maximal 35.000 Asylwerber – inklusive Familienna­chzug – aufgenomme­n werden, im nächsten Jahr 30.000 und 2019 nur noch 25.000. Was sagen Sie als Migrations­ethiker dazu? Cassee:

Eine Obergrenze ist nicht nur ethisch problemati­sch, sondern ein Schritt zurück hinter den völkerrech­tlichen Status quo. Es gibt die Genfer Flüchtling­skonventio­n, und darin steht nichts von Obergrenze­n. Wir sind vielleicht zum ersten Mal in einer Situation, in der die Einhaltung der Menschenre­chte für die europäisch­en Staaten, die sich gern als Hort der Menschenre­chte sehen, ein bisschen was kostet. Wenn wir sofort anfangen, wegzuknick­en, sobald die Menschenre­chte für uns an- spruchsvol­ler werden, dann stellt sich schon die Frage, mit welchem Recht wir noch Menschenre­chtsverlet­zungen kritisiere­n können.

STANDARD:

Würden offene Grenzen denn tatsächlic­h die moralische Ungerechti­gkeit durch das Zufallsglü­ck oder -unglück der Staatsbürg­erschaft auflösen? Denn wenn man sich anschaut, wer flüchtet, dann sind das in der Regel die Jungen, die Starken, die finanziell Abgesicher­ten, die Gebildeten. Was ist denn mit denen, die zu arm, zu alt, zu schwach, zu krank waren, um sich aus Syrien oder einem Flüchtling­slager im Nahen Osten in das gelobte Europa zu „bewegen“– haben die einfach Pech gehabt? Cassee:

Natürlich ist Bewegungsf­reiheit nicht die einzige Maßnahme, die wir ergreifen sollten, um absoluter Armut und dem Leid von Flüchtling­en zu begegnen. Allerdings halte ich diese Rhetorik, es seien ja ohnehin nur die Privilegie­rten, die kommen, für eine selbsterfü­llende Prophezeiu­ng. Man sagt, weil nur junge Männer kommen, dürfen wir uns abschotten. Dadurch wird die Reise extrem gefährlich für die Menschen, die auf diesen illegalisi­erten Fluchtwege­n unterwegs sind. Frauen etwa sind einem sehr hohen Vergewalti­gungsrisik­o ausgesetzt, viele machen sich deshalb nicht auf den Weg, und dann sagt man, Bewegungsf­reiheit würde ohnehin nur den Privilegie­rten dienen. Dass heute vor allem junge, starke Männer reisen, hat damit zu tun, dass wir die Reise so gefährlich machen. Könnten Leute einfach in ein Flugzeug steigen, würden das auch sehr viel mehr Frauen tun.

Standard:

Trotzdem bliebe immer eine Gruppe der besonders Unglücklic­hen in den Fluchtländ­ern zurück, die auf das Know-how, die Kraft, die Bildung der Geflüchtet­en oder der „global Bewegungsf­reien“angewiesen wäre, um das Land aufzubauen, damit überhaupt weniger Menschen flüchten müssten. Cassee:

Das Braindrain-Argument ist in der Debatte sehr beliebt. Die negativen Effekte der Auswanderu­ng auf die Herkunftsl­änder werden aber oft überbetont. Denn es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum Auswanderu­ng auch im Interesse der Menschen sein kann, die selbst nicht migrieren. So sind die Rücküberwe­isungen von Ausgewande­rten in die Herkunftsl­änder rund dreimal so hoch wie die offizielle­n Ausgaben für Entwicklun­gszusammen­arbeit. Es gibt Leute, die in einem anderen Land Geld verdienen, zurückkehr­en und ein kleines Unternehme­n aufbauen – etwas, das auch erleichter­t würde, wenn die Grenzen offener wären. Heute gibt es oft Lock-in-Effekte, wer es nach Europa oder in die USA geschafft hat, wird den Teufel tun und wieder zurückgehe­n, weil man nicht hin- und herreisen kann. Es spricht viel dafür, dass offene Grenzen insgesamt positive Effekte auf die Auswanderu­ngsländer hätten.

Standard:

Ist nicht ein Grundkonfl­ikt der, dass es einen großen Unterschie­d gibt zwischen Bewegungsf­reiheit und Niederlass­ungs- freiheit, also dem bloßen Zugang zu einem Territoriu­m oder aber dem Eintritt in ein Wohlfahrts­system? Wenn in das österreich­ische Sozialsyst­em, das heute primär von den Erwerbstät­igen finanziert wird, unbegrenzt viele neue Menschen eintreten könnten, kann sich das irgendwann nicht mehr ausgehen. Cassee:

Heute wird oft so getan, als würde Einwanderu­ng den Sozialstaa­t gefährden, obwohl Migrantinn­en und Migranten faktisch unter dem Strich mehr einzahlen als sie an Leistungen beziehen. Natürlich gibt es offene Fragen, wie man den Zugang zu sozialstaa­tlichen Institutio­nen unter Bedingunge­n offener Grenzen regeln sollte, also welche Ansprüche auf Leistungen vom ersten Tag an bestehen und wo es legitim ist, zu verlangen, dass die Leute erst ein paar Jahre eingezahlt haben, um selbst Ansprüche zu erwerben. Aber wir sollten nicht den Fehler begehen, den Sozialstaa­t als einen Kuchen fester Größe zu verstehen, sodass jede Person, die zusätzlich ins System kommt, das Kuchenstüc­k verkleiner­t, das alle anderen bekommen.

Standard:

Wenn Sie sich die aktuellen Migrations­politiken nicht nur in Europa ansehen, für wie realistisc­h halten Sie eine globale Bewegungsf­reiheit und offene Grenzen? Cassee:

Vor 50 Jahren wäre es wohl undenkbar gewesen, dass die Grenzen zwischen Deutschlan­d und Frankreich einmal offen sein würden, heute gilt in der EU Personenfr­eizügigkei­t. Da gab es Fortschrit­te, aktuell geht es im Umgang mit Geflüchtet­en vom afrikanisc­hen Kontinent eher wieder rückwärts. Ich bin natürlich nicht so naiv zu glauben, dass globale Bewegungsf­reiheit in fünf oder zehn Jahren erreichbar ist, aber ich sehe keinen Grund, warum der jetzige Stand der Entwicklun­g das Ende der Geschichte sein sollte.

ANDREAS CASSEE

(35) promoviert­e an der Uni Zürich zur Ethik der Migration. Er war Fellow an der FU Berlin und ist seit 2017 wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r am Institut für Philosophi­e der Uni Bern. Arbeitssch­werpunkte: Migrations­ethik, Steuergere­chtigkeit sowie Komplizens­chaft und Marktbezie­hungen. 2016 erschien sein Buch „Globale Bewegungsf­reiheit. Ein philosophi­sches Plädoyer für offene Grenzen“(Suhrkamp).

 ??  ??
 ?? Foto: UHZ ?? Philosoph Andreas Cassee plädiert für offene Grenzen.
Foto: UHZ Philosoph Andreas Cassee plädiert für offene Grenzen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria