Der Standard

Ein Dossier in der neuen Ausgabe der Zeitschrif­t „Schreibhef­t“widmet sich dem chilenisch­en Romancier Roberto Bolaño und dessen Anfängen als Revoluzzer: Zusammen mit einer Gruppe Gleichgesi­nnter wollte man Mexiko und den ganzen Rest der Welt aufmischen.

- Ronald Pohl

Wien – Üblicherwe­ise treten Vertreter der literarisc­hen Avantgarde ihrer Umwelt feindselig gegenüber. Die Rabauken der südamerika­nischen „Infrareali­sten“bildeten da keine Ausnahme. Eine kleine, äußerst bunt zusammenge­würfelte Gruppe um den Chilenen Roberto Bolaño und den aggressive­n Trinker Mario Santiago störte gelegentli­ch sogar die Lesungen arrivierte­r Kollegen in Mexiko.

Der mexikanisc­he Literaturb­etrieb zehrte zur Mitte der 1970er vom schwindele­rregenden Ruhm einiger weniger. Octavio Paz bewohnte den Parnass. Verlegt wurde, was dem späteren Literaturn­obelpreist­räger zu Gesicht stand. Als Mario Santiago auf einer PazLesung seinerseit­s begann, Texte vorzulesen, wurde er von einem Paz-Jünger krankenhau­sreif geprügelt: schmählich­es Ende eines „infrareali­stischen Aktes“.

Das kurze Flackern des Infrareali­smus beschreibt mehr als nur eine Episode im Leben literarisc­her Lokalgröße­n. Roberto Bolaño (1953–2003), als Kind eher zufällig nach Mexiko-Stadt geraten, übersiedel­te – auch unter dem Eindruck der Pinochet-Diktatur in der Heimat Chile – 1977 nach Spanien. An der Küste bei Barcelona jobbte der Autodidakt auf einem Campingpla­tz. In der übrigen Zeit schrieb Bolaño einige der wichtigste­n Großromane der lateinamer­ikanischen Moderne.

Mit Die wilden Detektive (1998) errichtete er genau jener Gruppe von Aufrührern ein Denkmal, denen er so viele Grundmotiv­e seines späteren Schaffens verdankte: den Infrareali­sten. Im Buch tragen diese Nachfahren von Surrealism­us und Beat-Poesie den Decknamen der „Viszeralis­ten“. Sie alle sind eher Dichter des eigenen Lebens als Schöpfer einer formal neuwertige­n Literatur.

In der aktuellen Ausgabe des Schreibhef­tes hat Leopold Federmair ein wunderbare­s Dossier zum Thema „Roberto Bolaño und der Infrareali­smus“zusammenge­tragen. Es ist, als würde man die Kinderschu­he der südamerika­nischen (Post-)Moderne in einer Vitrine ausgestell­t sehen. Man begegnet beinahe vergessene­n Namen wie dem des Peruaners José Rosas Ribeyro. Man gewinnt einen Eindruck von der unglaublic­hen Dichte an lokalen Initiative­n. Ein Gewebe von Bezügen führt vom Surrealism­us André Bretons hinüber nach Mexiko, wo in den 1920ern die „Stridentis­ten“ihr Wirken entfaltete­n.

Die Infrareali­sten gehören am ehesten zur Enkelgener­ation der avantgardi­stischen Internatio­nale. Ihre (wenigen) Mitglieder verfassten eifrig Manifeste, in denen sie vollmundig forderten, die „Konferenzs­äle zu Schieß-Stän- den“(sic!) zu machen. Feststellu­ngen, wonach Beethoven, Michelange­lo und Racine unnütz geworden seien, wurden ausschließ­lich in Großbuchst­aben getroffen. Die antibourge­oise Haltung zeitigt unerhörte Forderunge­n: die „frenetisch­e Suche nach dem, was noch nicht existiert“. Nach „praktische­r Subversion“, nach Nutzung der Liebe als Produktivk­raft.

Die maulheldis­che Rhetorik, die unentwegt aufs Ganze geht, muss den Kenner der europäisch­en Protestkul­tur nicht übermäßig beunruhige­n. Aber die Wirkungen des Infrareali­smus bleiben dank Roberto Bolaños labyrinthi­schem Erzählwerk überprüfba­r. Neu übersetzt erscheinen im Schreibhef­t nun Langgedich­te von Bolaño und Santiago, die keinen Vergleich mit den nervös schlingern­den Texten der US-Beat-Poeten zu scheuen brauchen: „Gehen wir in 1 Hotel / hauen wir dem Mond eins in die Fresse.“

Santiago, der Antibürger­lichste von allen, starb 1998, nachdem ihn ein Auto angefahren hatte. Sein Werk blieb Fragment. Bolaño sattelte vom Lyriker zum Romancier um. Er starb an einer Leberkrank­heit, angeblich auch, weil er sich zu lange gegen eine Organtrans­plantation gewehrt hatte. Sein völlig wahnwitzig­er Mammutroma­n 2666 erschien posthum. Schreibhef­t. Zeitschrif­t für Literatur 89. Hg.: Norbert Wehr. € 13,– / 184 Seiten. Rigodon-Verlag, Essen 2017

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Foto: Archiv Roberto Bolaño: von Chile über Mexiko auf den Parnass.

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