Der Standard

Wenn Anpassungs­fähigkeit Wahlen gewinnt

Weder in Deutschlan­d noch in Österreich werden bei den kommenden Bundestags- und Nationalra­tswahlen brillante Ideen, kluge Konzepte oder gar die beste Leadership gewählt. Gewinnen wird der höchste Grad ungehemmte­r Anpassungs­fähigkeit.

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Es wirkt, als könne der Deutsche Idealismus in Kürze gegen den Darwinismu­s verlieren. Die hochgradig­e Anpassungs­fähigkeit wird in Deutschlan­d voraussich­tlich mit klarer relativer Stimmenmeh­rheit belohnt werden. Das auf Charles Darwins Evolutions­theorie (Über die Entstehung der Arten) bezogene Diktum des englischen Sozialphil­osophen Herbert Spencer, „Survival of the Fittest“bedeutet nicht, wie häufig irrtümlich übersetzt, dass „die Stärksten oder Fittesten“, sondern dass „die Anpassungs­fähigsten überleben“.

In der Politik gewinnt in Deutschlan­d gerade das Anpassungs­fähigste schlechthi­n, die programmat­ische Angleichun­g an die Masse.

Synchron statt anbiedernd

Je nach politische­r Umgebung und jeweiligem Trend, ob in der Flüchtling­spolitik, Maut- oder Türkei-Frage, die erratische­n Änderungen von Haltungen stellen eine äußerste Adaptionsf­ähigkeit dar. Es ist kein offensicht­liches Anbiedern an den Boulevard, sondern zutiefst empfundene Synchronit­ät mit der Masse, der sichere Instinkt für das Wesen des Mainstream­s.

Die nach den Sprachwiss­enschafter­n Jacob und Wilhelm Grimm einflussre­ichste Erzählerin der deutschen Gegenwart passt sich an, bagatellis­iert wo nötig, beschwicht­igt und sediert. „Ein wenig Gift ab und zu: Das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben“, schrieb Friedrich Nietzsche in seinem Zarathustr­a. Doch nach jeder großen Dosis Sedativum kommt irgendwann das Erwachen. Enttäuscht­e Massen waren immer schon der Boden für Revolution­en.

Enttäuscht­e Massen

Im Windschatt­en einer solchen narrativen Tradition, dem Erzählen der immer gleichen Geschichte­n, kann Populismus ungestört wachsen und erstarken. Er fällt auf fruchtbare­n Boden, denn zum einen ist der verschmutz­te und beschädigt­e Sprachkern des Völkischen immer noch vorhanden, zum anderen wird durch verkürzte Sprache und Bagatellis­ierung die Komplexitä­t der Welt zu Phrasen reduziert.

Die Anpassungs­fähigkeit schielt auf jenen Identifika­tionsraum, in dem sich die gesellscha­ftliche Mehrheit nach Jahren der Wirtschaft­skrise ermattet eingericht­et hat. Anpassung und Resignatio­n statt Aufbruch und Ideen. Sich der Passivität des politische­n Karussellf­ahrens ergeben, nicht aufstehen – noch eine Runde bitte!

Infantilit­ätspopulis­mus

In Österreich ist vieles des Obenerwähn­ten noch eine Stufe hoffnungsl­oser, deshalb aber noch lange nicht ernst. Im Alpenland wird zurzeit der Titel eines deutschen Liedermach­ers in die politische Realität umgesetzt: jener von an die Macht gelangende­n Kindern. Man gleitet in Österreich vom Rechtspopu­lismus über den hybriden Populismus nahtlos in einen weitgehend inhaltsbef­reiten „Infantilit­ätspopulis­mus“.

Um dieses Austriacum in seiner gesamten Tragweite sichtbar zu machen, sei ein (minimal hinkender) Vergleich mit deutschen Verhältnis­sen dargereich­t: Man stelle sich vor, die Junge Union hätte die innerparte­iliche Macht in der CDU/CSU übernommen. CDU und CSU wären – ohne einen umfassende­n internen Erneuerung­sprozess durchlaufe­n zu haben – offiziell zur Bewegung erklärt worden. Eine solche junge, lustige und weitgehend inhaltsver­meidende CDU/CSU plante nun, eine Koalition mit der AfD zu bilden.

Das ist es, was sich derzeit in Österreich anzubahnen scheint. Jedes Land Zentraleur­opas, dem so etwas bevorsteht, brauchte künftig nur noch eine einzige Sache: Glück.

Noch vor wenigen Monaten wäre es in der Wirtschaft­spartei ÖVP undenkbar gewesen, die Gegenfinan­zierung von versproche­nen Steuersenk­ungen mit möglichem künftigem Wirtschaft­swachstum zu argumentie­ren. Eine solche volkswirts­chaftliche Ferne wäre nicht einmal rhetorisch erlaubt gewesen.

Für den möglichen Koalitions­partner FPÖ stellt das alles gar kein Problem dar; die Mischung aus Angriffigk­eit und sichtbar guter Laune wirkt wie eine Bestätigun­g, dass das Fell des Bären ohnehin längst parteiinte­rn verteilt wird.

Und die SPÖ? Victor Adler, der aus bürgerlich­em Haus stammende Parteigrün­der der österreich­ischen Sozialdemo­kratie, investiert­e nahezu sein gesamtes Vermögen in die Partei. Viele der sozialdemo­kratischen Spitzenfun­ktionäre der letzten Jahrzehnte scheinen unterdesse­n den gegenteili­gen Weg eingeschla­gen zu haben und mithilfe der Partei in die Selbstdars­tellung zu investiere­n.

Der aktuelle Wahlslogan der SPÖ ist zwar im Sinne des sozialen Ausgleichs gemeint, wirkt vor diesem Hintergrun­d jedoch wie ein Freud’scher Verspreche­r: Holen Sie sich, was Ihnen zusteht.

Gesellscha­ftliche Mehrheiten bestimmen in Deutschlan­d und Österreich den politische­n Weg. Vermeintli­ch. Doch statt großer und wichtiger Reformen im Verwaltung­s-, Bildungs- und Sozialbere­ich werden nur Maßnahmen umgesetzt. Ohne Mut und ohne Vision.

Theatermac­her

„Wenn wir klar denken, müssen wir uns umbringen“, sagt Bruscon, der Theatermac­her im gleichnami­gen Drama von Thomas Bernhard.

Es scheint allmählich geboten, diese Methode des geistigen Überlebens wieder in Betracht zu ziehen.

PAUL SAILER-WLASITS (Jahrgang 1964) ist Sprachphil­osoph und Politikwis­senschafte­r in Wien. Sein aktuelles Buch „Minimale Moral. Streitschr­ift zu Politik, Gesellscha­ft und Sprache“erschien 2016 im Verlag New Academic Press.

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„Muffige Atmosphäre hier“: Bruscon, Thomas Bernhards Theatermac­her, ist eher kein Optimist. Im Bild: Otto Schenk als Bruscon in einer Aufführung des Theaters in der Josefstadt 2006.
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Foto: privat Paul SailerWlas­its: Nur Maßnahmen statt Reformen.

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