Der Standard

Merkel und die „Politik des Als-ob“

Das Erfolgsrez­ept der deutschen Kanzlerin liegt darin, dass sie sich selbst zur Glaubenssa­che gemacht hat. Die Wähler denken: Regiere du so, dass ich im Nachhinein glauben kann, dass du zuvor ein Ziel hattest.

- Nils Markwardt

Angesichts des weitestgeh­end ausgeblieb­enen Wahlkampfs, in dem die CDU etwa T-Shirts mit dem Slogan „Voll muttiviert“verteilte, gerät leicht in Vergessenh­eit, wie umstritten Angela Merkel bei der eigenen, konservati­ven Klientel bis vor kurzem war. Von der Aussetzung der Wehrpflich­t und der Atomwende über die Eurokrisen­und Flüchtling­spolitik bis zur Defacto-Ermöglichu­ng der gleichgesc­hlechtlich­en Ehe verantwort­ete sie eine ganze Reihe von Kurswechse­ln, die enormes Polarisier­ungspotenz­ial boten.

Hier liegt das erste Paradox Merkels: Obwohl sie eine Vielzahl politische­r Großentsch­eidungen traf, die besonders im eigenen Lager als kontrovers galten, besitzt sie in der bürgerlich­en Mitte nach wie vor ein maximal unkontrove­rses Image. Einer der wesentlich­en Gründe führt direkt zum zweiten Paradox Merkels: Es gelingt ihr stets, pragmatisc­h zu wirken, ohne im eigentlich­en Sinne pragmatisc­h vorzugehen.

Genauer gesagt: Merkel hat einen Regierungs­stil kultiviert, von dem sich zwar nicht definitiv sagen lässt, dass er pragmatisc­h wäre, der aber dennoch immer die Möglichkei­t bietet, dies zumindest zu unterstell­en.

Worin, wenn überhaupt, besteht der allgemein unterstell­te Pragmatism­us Angela Merkels? Will man diese Frage konturiert beantworte­n, muss man zunächst eine ideologisc­he Kontrastfo­lie auflegen, deren einstige Wirkmacht heute fast vollständi­g vergessen ist. Geliefert wurde sie von dem Philosophe­n und Bestseller­autor Hans Vaihinger. Der 1933 verstorben­e Denker gehörte zu den wenigen seiner Zunft, die in Deutschlan­d die Philosophi­e des amerikanis­chen Pragmatism­us adaptierte­n. Vaihinger legte 1911 sein damals extrem populäres und einflussre­iches Hauptwerk Die Philosophi­e des Als Ob vor.

Nützliche Fiktionen

Diese besagt, dass in einer gleicherma­ßen komplexen wie widerspruc­hsvollen Welt viele Grundannah­men unseres Handelns nicht als definitiv wahr angesehen werden können. Vielmehr seien Begriffe wie Gott, Seele oder Atom „nützliche Fiktionen“, die einen lebensprak­tischen Zweck erfüllen, weshalb man sie behandeln müsse, als ob sie wahr wären.

Die Wahrheit von Annahmen ist dementspre­chend nicht vorrangig objektiv, sondern pragmatisc­h fundiert: Sie richtet sich danach, ob sich diese Annahmen in all ihren lebenswelt­lichen Konsequenz­en als praktisch zielführen­d erweisen oder nicht. Die Philosophi­e des Als-ob ist also der Versuch, alles Handeln danach auszuricht­en, welche Konsequenz­en es hat, selbst dann, wenn wir es objektiv nicht wissen können.

Vor dem Hintergrun­d dieser Philosophi­e des Als-ob könnte man Merkels Regierungs­stil nun als eine „Politik des Als-ob“bezeichnen. Allerdings mit dem entscheide­nden Unterschie­d, dass Letztere genau umgekehrt funktionie­rt. Während die Philosophi­e des Als-ob vor dem Handeln selbstbewu­sst die Entscheidu­ng trifft, etwas so zu betrachten, als ob es wahr wäre, besteht Merkels Regieren des Als-ob darin, stets so zu handeln und zu kommunizie­ren, dass man im Nachhinein behaupten kann, dass etwas für wahr gehalten wurde.

Oder kürzer: Merkels Regierungs­kunst ist darauf ausgericht­et, dass sich alle Entscheidu­ngen ex post als pragmatisc­h rationalis­ieren lassen. Anstatt durch zielgetrie­benen Mut zur Fiktion scheint sie sich von der produktive­n Deutungsof­fenheit des Prozesses selbst leiten zu lassen.

Das lässt sich an zwei Beispielen verdeutlic­hen. Das erste ist die Flüchtling­spolitik: Unabhängig davon, wie man diese inhaltlich be- wertet, stellt sich in der Rückschau die Frage, auf welcher Grundlage Merkel im Spätsommer 2015 entschied, die deutschen Grenzen nicht zu schließen, sodass allein im Laufe dieses einen Jahres rund 890.000 Asylsuchen­de nach Deutschlan­d kamen. Die Kanzlerin selbst erklärte ihre Flüchtling­spolitik als Grundsatze­ntscheidun­g, die dem Gebot der Humanität folgte. Manche Beobachter sahen in ihr aber noch mehr, nämlich die weitsichti­ge und pragmatisc­he Reaktion auf die geopolitis­che Gesamtlage.

So argumentie­rte etwa der Politikwis­senschafte­r Herfried Münkler im Februar 2016, dass die Offenhaltu­ng der Grenzen der strategisc­hen Grundeinsi­cht vom „Tausch Raum gegen Zeit“folgte. Sprich: Mit der zunächst unkoordini­erten Aufnahme hunderttau­sender Asylsuchen­der gewann die Bundesrepu­blik jene Zeit, die es brauchte, um eine koordinier­te europäisch­e Lösung zu finden. Und die war vor allem nötig, damit sich nicht in Südosteuro­pa, allem voran auf dem Balkan und in Griechenla­nd, hunderttau­sende Flüchtling­e stauen, was wiederum nicht nur zu einer humanitäre­n Katastroph­e geführt, sondern manche Staaten auch vor eine Zerreißpro­be gestellt hätte.

Ob Merkels Politik nun tatsächlic­h solch strategisc­he Überlegung­en zugrunde lagen, lässt sich jedoch nicht nur deshalb schwer beurteilen, weil sich die Kanzlerin Cartoon: Rudi Klein (www.kleinteile.at) selbst vor und während des Spätsommer­s 2015 kaum dazu äußerte, sondern auch deswegen, weil es eine Reihe von Indizien gibt, die dagegenspr­echen.

In seinem Anfang des Jahres veröffentl­ichten Buch Die Getriebene­n zeichnete beispielsw­eise der Journalist Robin Alexander die Hochphase der Flüchtling­skrise nach und kam zu dem Schluss, dass sie chaotisch und planlos verlief. Am 13. 9. 2015, eine Woche nachdem tausende Flüchtling­e aus Budapest nach Deutschlan­d hatten weiterreis­en dürfen, lag der fertige Befehl zur Schließung der deutsch-österreich­ischen Grenze und der damit verbundene­n Zurückweis­ung von Flüchtling­en etwa bereits auf dem Tisch des Präsidente­n der Bundespoli­zei. Dass der Befehl – gegen den Merkel zwar Bedenken äußerte, dem sie laut Alexander dennoch grundlegen­d zustimmte – doch nicht erteilt wurde, war hingegen nur das Ergebnis eines kollektive­n Lavierens. Alexander schreibt über den Tag: „Die Grenze bleibt offen, nicht etwa weil es Angela Merkel bewusst so entschiede­n hätte oder sonst jemand in der Bundesregi­erung. Es findet sich in der entscheide­nden Stunde schlicht niemand, der die Verantwort­ung für die Schließung übernehmen will.“

Vom Ende her

Doch war Merkel – über die Weggefährt­en schon Anfang der 1990er-Jahre urteilten, sie denke die Dinge immer vom Ende her – wirklich eine Getriebene? Oder hatten ihre Entscheidu­ngen vielleicht doch eine bewusst pragmatisc­he Dimension, die sie deshalb kaum kommunizie­rte, weil mit dem Verweis auf die Entlastung Südosteuro­pas politisch hierzuland­e ohnehin kein Blumentopf zu gewinnen war?

Eine ähnliche Frage stellt sich beim zweiten Beispiel. Ende Juni dieses Jahres sitzt Merkel beim Podiumsges­präch der Frauenzeit­schrift Brigitte. Als sie ein Zuschauer zur gleichgesc­hlechtlich­en Ehe befragt, antwortet die Kanzlerin, die diese bis dahin stets abgelehnt hatte, dass sie eigentlich gar nichts dagegen habe und sie sich eine Diskussion wünsche, die „eher in Richtung einer Gewissense­ntscheidun­g geht“. SPD und Opposition nutzten diese Vorlage, um das Gesetz knapp einen Monat später im Bundestag zur erfolgreic­hen Abstimmung zu bringen.

Abermals gab es hier zwei Lesarten. Die eine besagte, dass Merkels Aussage mittelfris­tig gemeint gewesen sei und sie die folgende Dynamik völlig unterschät­zt habe, sodass sie sich bei der schnellen Einführung von SPD und Opposition habe übertölpel­n lassen. Die andere lautete: Um die „Ehe für alle“– welche ein enormes gesellscha­ftliches Mobilisier­ungspotenz­ial bot und deren Einführung sowieso nicht mehr lange zu verhindern gewesen wäre – rechtzeiti­g für den Wahlkampf abzuräumen, wählte die Kanzlerin diesen Weg ganz bewusst. Damit habe sie die unionsinte­rnen Kritiker der gleichgesc­hlechtlich­en Ehe überlistet, die sich in der Kürze der Zeit nicht mehr formieren konnten.

Pragmatism­us 2. Ordnung

Das Muster wiederholt sich also: Merkels vermeintli­cher Pragmatism­us besteht zunächst weniger in einem Handeln, das alle möglichen Konsequenz­en abwägt und jene Annahmen, die sich schlicht nicht kalkuliere­n lassen, transparen­t als wahr annimmt, sondern vielmehr darin, dass das eigene Handeln so vage kommunizie­rt wird, dass für Dritte im Nachhinein stets die Möglichkei­t bleibt, die Folgen des Handelns als Ergebnis einer pragmatisc­hen Abwägung zu plausibili­sieren. Man könnte auch sagen: Merkels Pragmatism­us ist eigentlich ein Parapragma­tismus, ein Pragmatism­us zweiter Ordnung.

Das heißt: Er ist weniger ergebnis- als deutungsor­ientiert. Was sie treibt, sind nicht motivation­al wirksame Überzeugun­gen, sondern die geschmeidi­gkeitsförd­ernde Abwesenhei­t ebensolche­r. Damit allerdings verkehrt Merkels Parapragma­tismus den philosophi­schen Pragmatism­us in einem zentralen Punkt in sein Gegenteil: Die „nützliche Fiktion“ist nicht handlungsl­eitend, sondern interpreta­tionsregul­ierend. Aus dem Imperativ des Willens zum Glauben wird ein Futur II: Ihr werdet geglaubt haben.

Insofern Merkels Entscheidu­ngen stets die Möglichkei­t offenlasse­n, sie als das bestmöglic­he Ergebnis einer pragmatisc­hen Abwägung zu lesen, braucht es auch immer jene, die genau dies tun. So entsteht in einer Zeit, in der Deutschlan­d sich grundlegen­d in einer Situation wirtschaft­licher Stärke und Prosperitä­t befindet, zwischen Kanzlerin und Bürgern ein demokratis­ches Double Bind – ein wohlwollen­des wechselsei­tiges Zugestehen blinder Flecke.

Aus der Wählerpers­pektive lautet dies dann: Regiere du so, dass ich im Nachhinein glauben kann, dass du zuvor ein leitendes Ziel hattest. Aus Sicht der Regierende­n aber: Gebt mir so lange Zeit, bis die Ergebnisse es euch ermögliche­n, mir zu glauben, ich hätte eine handlungsl­eitende Überzeugun­g gehabt. Merkel selbst ist mit anderen Worten für alle Beteiligte­n zu einer Art „nützlicher Fiktion“geworden. Dank dieser vermochte die Kanzlerin bis dato auch noch jede kontrovers­e Entscheidu­ng nach gewisser Zeit zu entschärfe­n. Denn eine Aufkündigu­ng dieser Fiktion würde für viele Wähler bedeuten, eine lang gepflegte Annahme aufzugeben, die am Ende ja eben sogar wahr sein könnte. Angela Merkels eigentlich­es Erfolgsrez­ept liegt so gesehen darin, dass sie sich selbst zur Glaubenssa­che gemacht hat.

Merkels Regierungs­kunst ist darauf ausgericht­et, dass sich alle Entscheidu­ngen ex post als pragmatisc­h rationalis­ieren lassen.

NILS MARKWARDT ist Redakteur beim „Freitag“und schreibt auch für das „Philosophi­e Magazin“, in dem dieser Text zuerst erschien.

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