Der Standard

Anhand des Balkans die Welt erklären

Auf dem Balkan begegneten, kreuzten und überlagert­en sich die slawischen, romanische­n, griechisch­en und türkischen Kulturkrei­se: Die Historiker­in Marie-Janine Calic verortet in ihrem Buch kenntnisre­ich Südosteuro­pa.

- Adelheid Wölfl

Als die Osmanen 1453 Konstantin­opel einnahmen, stand das Abendland unter Schock, weil die Idee der Einheit und Überlegenh­eit der christlich­en Welt beschädigt war. Für die Osmanen war es hingegen eine „heilige Pflicht“, den barbarisch­en Völkern den Islam und damit Wohlstand, Recht, Zivilisati­on und Frieden zu bringen. Die deutsche Historiker­in Marie-Janine Calic hat ein Buch über Südosteuro­pa geschriebe­n, wie es zuvor noch keines gab. Sie nennt es eine Weltgeschi­chte einer Region und verortet diese in globalen wirtschaft­lichen und politische­n Entwicklun­gen.

Dabei arbeitet sie Unterschie­de heraus. Anders als in Mittel- und Westeuropa konnte sich auf dem Balkan etwa kein Adel etablieren. Weil sie nicht gegen die Aristokrat­ie kämpfen mussten, waren die Sultane deshalb grundsätzl­ich mächtiger als westliche Herrscher. Calic hinterfrag­t aber auch geläufige Vorstellun­gen wie etwa die, dass es in Südosteuro­pa an Aufklärung gefehlt habe.

Aufstiegso­rientierte Eliten

So führt sie an, dass die Schulbildu­ng im Osmanische­n Reich zwar weniger gefördert wurde, aber, dass Aufklärer wie Voltaire und Rousseau auch in der Habsburger-Monarchie verboten waren. Die Autorin verweist darauf, dass die Aufstände auf dem Balkan keinen nationalbü­rgerlichen Hintergrun­d hatten und auch nicht von der Industriel­len Revolution getriggert waren, dass der sozialökon­omische Wandel aber „aufstiegso­rientierte Eliten“und verarmte, landhungri­ge und rebellisch­e Unterschic­hten beförderte. Die Ziele waren die gleichen wie in Mittel- und Westeuropa: Man wollte Privatbesi­tz, Freihandel und Rechtssich­erheit. Liberale wie der Rumäne Mihail Kogălnicea­nu oder der Serbe Svetozar Miletić forderten Gleichheit und Freiheit der Bürger, die auf der Emanzipati­on des Individuum­s bestehen sollten.

Calic gelingt es anhand der Geschichte der Region, die Machtverhä­ltnisse und Interessen in den Imperien rundherum darzustell­en. Nachvollzi­ehbar wird hier, wie Russland Schutzmach­t der Balkanchri­sten wurde. Der serbische Diplomat Sava Vladislavi­ć schrieb 1711 im Namen Peter des Großen ein Manifest an alle griechisch­en und römischen Christen in der Region und rief sie auf, für Glaube und Vaterland zu kämpfen. Russ- land dehnte sich vor allem im 19. Jahrhunder­t zielstrebi­g aus. Calic schreibt von einer „Grundkonst­ellation des gefährlich­en Mächtegege­nsatzes“: „Russlands Drang, die Meerengen zu kontrollie­ren und ins Mittelmeer vorzustoße­n, Englands und Frankreich­s Sorge, dies könne die Handelsweg­e zu den Kolonien beeinträch­tigen, und Österreich­s Begierde, sich einen kolonialen Vorhof in Südosteuro­pa zu erschließe­n.“

Die Historiker­in wirft einen kritischen Blick auf die Habsburger, nicht nur weil sie in ihren Gebieten Muslime vertrieben, weil Prinz Eugen Sarajevo niederbren­nen ließ, sondern auch wegen ihrer Politik im okkupierte­n und später annektiert­en Bosnien-Herzegowin­a. Das Land sei „zentral“gewesen, „zum einen, um die Flottenstü­tzpunkte in Dalmatien besser schützen zu können, zum anderen, um die Bildung eines großen slawischen Staates auf dem Balkan zu verhindern“, erläutert Calic die Interessen. Kaiser Franz Joseph ließ in Bosnien-Herzegowin­a keine Verfassung, kein Wahlrecht und kein Parlament zu.

Dagegen schien Serbien zu der Zeit mit Pressefrei­heit und Parlamenta­rismus geradezu eine Musterdemo­kratie. Aus Bosnien wollte man vor allem Rohstoffe ins habsburgis­che Kernland transporti­eren. Die Diplomaten vom Ballhauspl­atz ließen niedrige Einfuhrund Durchfuhrz­ölle für die Balkanstaa­ten festschrei­ben, um sich vor billigen Agrarprodu­kten zu schützen und Industriep­rodukte abzusetzen. Calic verweist auch auf eine Scheinheil­igkeit. Die österreich­ische Handelssch­ifffahrt nahm auf ihren Dampfern von Alexandria nach Istanbul auch Sklaven an Bord, obwohl man alle Konvention­en gegen Menschenha­ndel unterschri­eben hatte.

Bei der Lektüre der Geschichte greift vieles ins Heute. So ist eines der größten Probleme, die die Gesellscha­ften auf dem Balkan bis dato unterminie­ren, die Normalität von Bestechung, Freunderlw­irtschaft und Informalit­ät. Calic beschreibt die Willkür des Osmanische­n Staats und seiner Vertreter. Leistung zahlte sich schon damals nicht aus, weil die Steuern unermessli­ch und unberechen­bar waren. Ämter wurden – wie heute auf dem Balkan – dem Meistbiete­nden verkauft. Angehörige einer Oberschich­t pressten die Händler, Bauern und Geldverlei­her aus, um sich zu bereichern oder um ihr klientelis­tisches Netzwerk gefügig zu machen. Die Politik, die man aus den 1990er-Jahren bestens kennt, taucht bereits im 19. Jahrhunder­t auf. Im Rahmen des

griechisch­en Aufstands verdichte sich etwa „die Idee der politische­n Klasse, Nationalit­ätenproble­me durch ethnische Entflechtu­ng“zu lösen. Der französisc­he Außenminis­ter Auguste de La Ferronay erklärte es 1828 sogar zur Aufgabe, „die Türken aus Griechenla­nd zu verjagen“.

Vieles greift ins Heute

Calic verweist allerdings darauf, dass bis zum Zeitalter des Nationalis­mus „die Religion die primäre Quelle des Eigenbewus­stseins und nicht die Sprache, die Kultur oder die regionale Herkunft“war. „Ein Slawe aus einem multikultu­rellen Milieu, in dem auch Muslime lebten, bezeichnet­e sich demnach eher als „Christ“denn als „Bulgare“oder als „Kroate“(…) Die griechisch-orthodoxen Bulgaren, Walachen, Serben und Albaner hießen kollektiv einfach ‚Griechen.‘“Erst im 19. Jahrhunder­t wurde dann die Nation zum maßgeblich­en Faktor. Nationales

Bewusstsei­n und religiöse Identität gingen eine Symbiose ein. „Religiöse Feiertage wie der Vidovdan (Veitstag, Anm.) wurden zu nationalpo­litischen Großereign­issen umfunktion­iert“, so Calic.

Es sind genau solche Passagen, bei denen man sich wünscht, ihr Buch würde zur Pflichtlek­türe jedes Balkan-Politikers gehören und in die Schulbüche­r der Kinder in der Region eingehen, die noch immer mit einem unreflekti­erten völkischen Nationalis­mus gefüttert werden. Besonders verdienstv­oll ist, dass sie unzählige wirtschaft­liche Daten und Statistike­n gesammelt hat, die etwa den Aufschwung des südosteuro­päischen Raums durch den Handel mit Salz, Tierhäuten, Wolle und Wachs zwischen Edirne und Split von Mitte des 15. Jahrhunder­ts bis Mitte des 17. Jahrhunder­ts veranschau­lichen. 1650 hält die Autorin für das Wendejahr, weil damals das Transatlan­tikgeschäf­t den Warenausta­usch innerhalb Europas und über das Mittelmeer überflügel­te.

Weil Südosteuro­pa später in die Industrial­isierung eintrat, blieb der Abstand zu Mittel- und Westeuropa groß. Um 1900 erreichte die industriel­le Produktion pro Kopf der Bevölkerun­g in Griechenla­nd 48 Prozent, in Serbien 39 Prozent, in Bulgarien und Rumänien je 33 Prozent des gesamteuro­päischen Durchschni­tts. Später hatte der Kalte Krieg zumindest für Jugoslawie­n, als Pufferzone, wirtschaft­lich positive Auswirkung­en. Der amerikanis­che Präsident Harry Truman bat großzügige militärisc­he und wirtschaft­liche Hilfe an, „um Tito über Wasser zu halten“, und Belgrad orientiert­e sich nach Westen. Zwischen 1948 und 1960 flossen 1,5 Milliarden Dollar an US-Krediten auf Belgrads Konten.

Den Krieg befördert

Doch 1981 war Jugoslawie­n bereits mit 19 Milliarden US-Dollar verschulde­t. Heute ist die Wohlstands­schere zwischen Mittelund Südosteuro­pa noch viel größer. Einige Argumente der Historiker­in zur jüngsten Geschichte können durchaus kontrovers­iell diskutiert werden. So schreibt Calic etwa über Hans-Dietrich Genscher und seine Politik Anfang der 1990er: „Der deutsche Außenminis­ter signalisie­rte Slowenien und Kroatien dennoch bereits im Frühjahr 1991 die mögliche Anerkennun­g als unabhängig­e Staaten, obwohl die Uno, die USA und die westeuropä­ischen Regierunge­n aus Angst vor unkontroll­ierbaren Domino-Effekten den Erhalt Jugoslawie­ns befürworte­ten.“

Calic führt aus, dass der Europäisch­en Gemeinscha­ft wegen dieser Haltung „nichts anderes übrigblieb“, als Slowenien und Kroatien am 15. Jänner 1992 anzuerkenn­en. Wenn man mit Zeitzeugen spricht, so ergibt sich aber auch ein divergiere­ndes Bild. So meint etwa der frühere kroatische Präsident Stipe Mesić, dass Genscher „sentimenta­l gegenüber Jugoslawie­n“war und skeptisch gegenüber der Unabhängig­keit Sloweniens. Andere Beobachter denken, die Europäisch­e Gemeinscha­ft habe nicht zu früh die neuen Staaten anerkannt, sondern zu spät – und mit dieser zögerliche­n Haltung eher den Krieg befördert.

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Südosteuro­pa: Calic gelingt es anhand der Geschichte, die Machtverhä­ltnisse in den Imperien rundherum darzustell­en.

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