Der Standard

Erschöpfte­s Abendland

Jens Steiners Archiv der Zusammenbr­üche, Teil 11

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Es war nach einer äußerst unbefriedi­genden Telefonkon­ferenz, als Selma Tomic wieder einmal das Bedürfnis verspürte, in ihr Handy zu beißen. Diesmal tat sie es wirklich, und zu ihrem Erstaunen schmeckte das gar nicht mal so schlecht. Leicht nussig, dazu ein Anklang an Fenchel, dachte sie, während sie den ersten Bissen hinuntersc­hluckte, und hörte dabei in ihrem Kopf Stimmen, herrlich Einfältige­s vor sich hin quatschend. Ein zweiter Biss, immer noch der interessan­te nussige Grundton, immer noch die Stimmen. So schrumpfte das Kästchen in Selmas Hand, und allmählich vergaß sie, wie ihr Chef sie eben noch herunterge­putzt hatte, und auch die Deadlines von nächster Woche sowie den jämmerlich­en Rest von Privatlebe­n, der ihr noch geblieben war. Eine halbe Stunde später, als ihre Büronachba­rin Steffi Eder aufs WC ging, konnte sie nicht widerstehe­n und schnappte sich deren nigelnagel­neues iPhone 7 in matt schimmernd­em Roségold. Diesmal wurde sie von einem herben Meerrettic­hgeschmack überrascht. Nach wenigen Tagen waren jegliche Essenseink­äufe in Selmas Leben überflüssi­g geworden. Der Gedanke, wie viele unbefriedi­gende Telefonkon­ferenzen sie ihren Kolleginne­n schon erspart hatte, erfüllte sie nachhaltig mit einem Gefühl des Glücks.

Jens Steiner, geb. 1975, lebt als Schriftste­ller in Zürich.

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F.: EPA / Patrick Straub Gefühl des Glücks: Jens Steiner.

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