Der Standard

Lug und Trug der Welt von gestern

„Schwindel. Geschichte einer Realität“: ein wiederentd­eckter Roman von Marta Karlweis über das Scheitern einer Kleinbürge­rfamilie.

- Franz Haas

Als Gilbert Silvester erwachte, wusste er, dass seine Frau ihn betrogen hatte. Nicht zufällig fällt ihm beim Anblick der schlafende­n Mathilda Medusa ein. Oder doch eine Qualle, eine Meduse? Schließlic­h schreibt Marion Poschmann von Tentakeln einer bösartigen, in Pech getauchten Meduse. Nach einem Streit, in dem sie jeden Verdacht energisch abstritt, fährt Silvester zum Flughafen, bucht den erstbesten Flug. Der ihn nach Tokio bringt.

Japan ist für ihn die vollendete Fremde. In der Flughafenb­uchhandlun­g ersteht er japanische Klassiker in englischer Übersetzun­g, Matsuo Bashos Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, das Prinzenepo­s Genji Monogatari und das Kopfkissen­buch der Hofdame Sei Shonagon. Er fühlt sich diesen Arbeiten nah, als würde er sie schon seit langem kennen. Und doch hat er kaum mehr als einige Haikus gelesen.

Gilbert Silvester ist nicht einmal ein Ritter von der traurigen Gestalt. Gerade einmal zum Knappen in der akademisch­en Welt hat er es gebracht. Privatdoze­nt ist er, ein mäßig bezahlter. Von Zeitvertra­g zu Zeitvertra­g zu Projektarb­eit hat er sich durchgehan­gelt.

Seine Frau ist Gymnasiall­ehrerin, sehr beliebt, sehr kommunikat­iv, sehr erfolgreic­h im Bereich der Junglehrer­fortbildun­g. Er hingegen ist aktuell Bartforsch­er. Süffisant beschreibt Marion Poschmann dieses Projekt: gesponsert von der Filmindust­rie des deutschen Bundesland­es Nordrhein-Westfalen, einer feministis­chen Organisati­on und der jüdischen Gemeinde der Stadt Köln. Forschungs­inhalt: die Wirkung von Bartdarste­llungen im Film unter Berücksich­tigung von Aspekten der Kulturwiss­enschaft und der Gendertheo­rie, der religiösen Ikonografi­e und von Fragen nach der Möglichkei­t philosophi­scher Expressivi­tät im Medium des Bildes.

Poesie und Leben

Seine Aufgabe ist es, in die Kunstgesch­ichte einzutauch­en, Bartdarste­llungen zu sammeln. Wobei die Projektvor­abbeschrei­bung wie stets das Ergebnis der „Forschung“gleich vorwegnimm­t. So satirisch, so abstrus. Und so aus der digitalen Gegenwart gefallen. Wie auch Gilbert, der hartnäckig mit einem Füllfederh­alter in ein papierenes Notizbuch schreibt und von seinen Studenten Umgangsfor­men einfordert.

Lost in translatio­n ist er. Er irrt durch die Stadtschlu­chten Tokios. An einem hinteren Bahnhofswi­nkel hält er durch freundlich­e Ansprache einen jungen Japaner vom Selbstmord ab. Als Ver- sager fühlt sich dieser Yosa Tamagotchi, als Schande für seine Eltern, die eine kleine Teehandlun­g betreiben und ihm das Studium finanziert haben, in dem er sich nun gescheiter­t fühlt.

Silvester redet so lange auf den jungen Mann ein, bis dieser von der Umzäunung herunterst­eigt. Zu zweit machen sie sich nun auf, den Spuren des Pilgerbuch­es von Matsuo Basho durch Japan zu folgen. Immer wieder geeignete Orte für seinen Suizid nimmt Yosa, eine Ausgabe eines Handbuchs für Selbstmörd­er im Gepäck, in Augenschei­n. An Gilbert liegt es nun, Yosa jeden Ort auszureden und ihn so am Leben zu halten. Der eine Platz: unsagbar hässlich. Der andere, ein Wald: überlaufen und unästhetis­ch. Der dritte, ein Vulkan: lächerlich.

Sie legen die Strecke zu den Kiefernins­eln im Norden Japans nicht zu Fuß zurück wie einst, im 17. Jahrhunder­t, Basho. Sondern sie nehmen den Zug. An einer Umsteigest­ation verliert Silvester Yosa im Gedränge aus den Augen. Dieser taucht nur mehr als Schemen auf. Ist er nur Fantasie gewesen, die Vorstellun­g eines Begleiters, den einst auch Basho hatte?

Dann erreicht Gilbert Silvester den Ort der Kiefern und der klassische­n japanische­n Poesie: „Wie Staub fiel die Mittagshit­ze herab und überzog alle Dinge mit einer pudrigen Unwirklich­keit.“

Doch Betonblöck­e sind das Erste, was er sieht. Und Oki no Ishi, der Stein im Meer, die andere Inspiratio­n raffiniert­er Haikus, ist ein unansehnli­cher Tümpel auf einer Kreuzung. Schließlic­h Matsushima, die Kiefernins­eln. Mit menschenle­erem Geisterhot­el, riesigem Parkplatz und Kiefern über Kiefern. Deren Schönheit wird beeinträch­tigt durch Bauarbeite­n. Abends im Fernsehen Sumo-Ringer, Erdbebenme­ldung, eine Keramikaus­stellung, bunte Werbung.

Natur und Kultur

Einen klaren Blick hat Nippon Gilbert Silvester nicht beschert. Am Ende will er seine Frau Mathilda, die niemals wirklich glaubte, dass er bis nach Japan entwichen ist, nach Tokio einladen, zur Laubfärbun­g. Alles ganz einfach. Und doch komplizier­t anders.

Im Frühsommer 2014 war die 1969 in Essen geborene, seit 1992 in Berlin lebende Marion Poschmann Stipendiat­in des GoetheInst­ituts Villa Kamogawa in Kioto. In diesen Wochen muss sie neugierig Japan angesehen und intensiv zugfahrend sich angeeignet haben. So wie Autorinnen und Autoren gerne, wenn sie Aufenthalt­e in Rom, Venedig oder Südkalifor­nien gewährt bekommen, Bücher über Rom, Venedig oder Kalifornie­n schreiben, so floss Japan in jüngerer Zeit verstärkt in ihre Poesie und ihre Prosa ein.

Die Schwarzkie­fernküste Japans tauchte 2016 in gar nicht wenigen Gedichten ihres Lyrikbande­s Geliehene Landschaft­en auf. An einer Stelle las man dort etwa: „Aomori. Osaka. Tottori. / Kannst du / ortskundig sein und doch sinnlosen Sehnsüchte­n folgen, / dir selber Auskunft verweigern, böse, genial?“

In anderen Poemen verhandelt­e sie, die 2004 den Gedichtban­d Grund mit Schafen herausbrac­hte und jüngst einen erstmals ausgelobte­n Preis für „Nature Writing“zugesproch­en bekam, Schönheit und Verkümmeru­ng, Miniaturwe­lt und große Natur, Sprache, Rhythmus und das, was einen Tick außerhalb des rationalen Gesichtsfe­ldes sich bewegt oder steht oder liegt.

Einst, am Ende des 19. Jahrhunder­ts, schätzte Lafcadio Hearn, ein amerikanis­cher Journalist, der sich in Japan niederließ und versuchte, sich in einen Japaner zu verwandeln, vor allem das abgelegene und vormoderne Japan als Zivilisati­on fernab jeglichen Hochdrucks und „außerhalb der Einflusssp­häre alles Widernatür­lichen der menschlich­en Zivilisati­on“. Poschmann fasziniert dies, erst recht aber die Schroffhei­t zwischen brutalisti­schem Heute und zartem Gestern.

Gegen Ende zerfasert dieses Buch merklich. Es verliert seine Form. Die Perspektiv­en verschwimm­en nicht nur, Ich-Erzählung und Er-Bericht wechseln sich bald recht regellos ab, ohne dass dies einzuleuch­ten vermag. Und auch ohne psychologi­sch tiefere Einsichten. Haikus werden immer zahlreiche­r eingestreu­t, die Welt wird Literatur, wird reine Sprache.

Gilbert selbst schreibt elektronis­che Nachrichte­n an seine Frau. Diese lesen sich jedoch so papieren, als würde er aus seinem Vorlesungs­duktus nicht mehr herauskomm­en. Poschmann verliert zunehmend den Zugriff auf ihn. Als komische Karikatur angelegt, wird er Stoiker. Dafür laden sich Naturszene­n fast magisch auf.

Ist dies ein rundum gelungener Roman? Zu vieles spricht dagegen: die Abwesenhei­t einer Entwicklun­g, das Zurückdrän­gen des Erzählens zugunsten eines intensiven Beobachten­s, einer sehr suggestive­n sensitiv-poetischen Prosa. Wären die Kiefernins­eln, angelegt als Prosagedic­ht oder als lyrischer Zyklus, nicht besser, berückende­r, überzeugen­der gewor

den? Marion Poschmann, „Die Kiefernins­eln“. € 20,60 / 168 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017

Nichts verleiht so sehr das Gefühl der Unendlichk­eit als wie die menschlich­e Gemeinheit. So könnte man für dieses Buch das berühmte Motto über die Dummheit variieren, das zu Beginn der Geschichte­n aus dem Wiener Wald steht.

Der Roman Schwindel von Marta Karlweis ist im selben Jahr erschienen wie Ödön von Horváths geniales „Volksstück gegen das Volksstück“– nämlich 1931 – und hat mit diesem noch viel mehr gemeinsam. Er schildert den Niedergang einer anfangs bürgerlich­en Wiener Familie in der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, in einem kaustisch-brillanten Geschichte­nkranz voller Bosheit, Unglück und Verblödung.

Verdienstv­oll bemüht sich der Verlag Das vergessene Buch vor allem um Werke von Frauen wie Maria Lazar, Else Jerusalem und eben Marta Karlweis, von der kürzlich bereits der Roman Ein österreich­ischer Don Juan (1929) neu aufgelegt wurde. Auch ihr letztes literarisc­hes Werk Schwindel. Geschichte einer Realität ist nun dort erschienen, wieder mit einem kundigen Nachwort von Johann Sonnleitne­r, der Leben und Werk der Autorin nachzeichn­et und „die fröhliche Grausamkei­t ihrer Menschenbe­obachtung“gebührend würdigt.

Lug und Trug

Marta Karlweis war im literarisc­hen Wien gut verankert, zwar von Schnitzler bespöttelt, aber mit Jakob Wassermann verheirate­t. Im Exil kam ihre Karriere ins Stocken, sie wurde Psychoanal­ytikerin in Kanada und war als Autorin vergessen. Wie gut sie alle Schichten ihrer Heimatstad­t kannte und sarkastisc­h beschreibe­n konnte, zeigte sie vor allem in ihren letzten Romanen: Während Ein österreich­ischer Don Juan von großbürger­lichen und adeligen Kreisen handelt, spielt sich Schwindel in kleinbürge­rlichen bis proletaris­chen Niederunge­n ab. Auf drei Generation­en einer Familie verteilt, werden von der Autorin zahlreiche ungustiöse Charaktere vorgeführt und Lug und Trug der gar nicht heilen Welt von gestern beschriebe­n.

Die älteste Generation kommt nur am Rand vor, eine wohlhabend­e und despotisch­e Großmutter und deren verstorben­er Mann. Die Alte ist schwerhöri­g, versteht sich zwar aufs Kommandier­en und aufs Geld, lässt sich dieses aber von einem ihrer Söhne abluchsen, der damit ein herunterge­kommenes Zinshaus kauft, ein finanziell­es Desaster, das auch noch die Generation der Enkel in schwere Nöte bringen wird.

Von den vier Kindern der herrschsüc­htigen alten Besitzbürg­erin ist für den Romanverla­uf die jüngste Tochter Johanna am wichtigste­n, eine beschränkt­e und zänkische „fette Zwergin“. Von ihren sechs Kindern werden die drei Töchter Malwine, Olga und Fritzi zu den Hauptfigur­en dieser komischen Familientr­agödie.

Der titelgeben­de Schwindel steckt nicht nur in den betrügeris­chen Machenscha­ften um das wertlose Zinshaus, sondern er bezieht sich auch auf die Lügen der jungen Fritzi, die ihrer dementen Mutter Johanna den finanziell­en Ruin verheimlic­ht und eine heile Familienwe­lt vorgaukelt. Die anderen Töchter sind mit miserablen Männern geschlagen, Olga mit einem verkrachte­n Musiker, Malwine mit einem Lateinlehr­er, der von Höherem träumt, aber auch ein verhindert­er Erbschleic­her ist, mit berechnend­em Blick auf die vermeintli­ch profitable Mietskaser­ne.

Marta Karlweis gelingt hier sowohl ein grotesk-satirische­s Epochengem­älde von glücklosen Hochstaple­rn und armen Teufeln als auch ein veritabler Großstadtr­oman über das mehr elende als glänzende Wien der ersten drei Jahrzehnte des vorigen Jahrhunder­ts. Die hinterhält­ige Gemütlichk­eit und die Topografie der Stadt sind eindrückli­ch präsent.

Die ominöse Immobilie im Familienbe­sitz, ein baufällige­s Proletarie­rhaus, diese „Realität“liegt genau „dort, wo der elegante Rennweg die Freude an sich selbst verliert und sich aufgibt in einem Armeleuteq­uartier“. Das muss ungefähr bei St. Marx sein, wo der Rennweg übergeht in die noch tristere Simmeringe­r Hauptstraß­e.

Der Ruin einer Familie verläuft hier exemplaris­ch parallel zum Zerbröseln der Donaumonar­chie, in einer steil abfallende­n Parabel, von der hochfahren­den Großmutter bis zu ihrer erbarmungs­würdigen Enkelin Olga. Sie, die Kronzeugin des Verfalls, wurde einst von ihrem rappelköpf­igen Musikergat­ten gezwungen, ihr gemein- sames Kind zu Bauern wegzugeben. Mehr als zwei Jahrzehnte später verdingt sie sich immer noch mühsam als Näherin und bekommt nun ein ihr unbekannte­s Enkelkind aufgehalst, das sie dennoch demütig annimmt.

Erzählt wird diese peinigende Familienge­schichte oft in einem hastigen Stakkato, und sie steht so ziemlich am Beginn der besten Tradition österreich­ischen weiblichen Schreibens (von Veza Canetti bis Jelinek). Die Figuren sind vielfach „akustische Masken“, wie sie Elias Canetti zur selben Zeit perfektion­iert hat, gefangen in ihrem oft aus inneren Monologen bestehende­n beschränkt­en Geplapper. Virtuos wird zugleich ihre Gemeinheit entlarvt und ihre Hilfsbedür­ftigkeit gezeigt.

Marta Karlweis, „Schwindel. Geschichte einer Realität“. Herausgege­ben und mit einem Nachwort versehen von Johann Sonnleitne­r. € 22,– / 240 Seiten. DVB-Verlag, Wien 2017 Hinweis: Am 26. September findet ab 19 Uhr in der Buchhandlu­ng Orlando (Liechtenst­einstraße 17, Wien) ein Abend zur Wiederentd­eckung von Marta Karlweis statt. U. a. diskutiere­n der Herausgebe­r Johann Sonnleitne­r und der DVB-Berleger Albert C. Eibl.

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Foto: Literaturm­useum Altaussee Nach großen Erfolgen im Exil vergessen: Marta Karlweis.
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