Lug und Trug der Welt von gestern
„Schwindel. Geschichte einer Realität“: ein wiederentdeckter Roman von Marta Karlweis über das Scheitern einer Kleinbürgerfamilie.
Als Gilbert Silvester erwachte, wusste er, dass seine Frau ihn betrogen hatte. Nicht zufällig fällt ihm beim Anblick der schlafenden Mathilda Medusa ein. Oder doch eine Qualle, eine Meduse? Schließlich schreibt Marion Poschmann von Tentakeln einer bösartigen, in Pech getauchten Meduse. Nach einem Streit, in dem sie jeden Verdacht energisch abstritt, fährt Silvester zum Flughafen, bucht den erstbesten Flug. Der ihn nach Tokio bringt.
Japan ist für ihn die vollendete Fremde. In der Flughafenbuchhandlung ersteht er japanische Klassiker in englischer Übersetzung, Matsuo Bashos Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, das Prinzenepos Genji Monogatari und das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon. Er fühlt sich diesen Arbeiten nah, als würde er sie schon seit langem kennen. Und doch hat er kaum mehr als einige Haikus gelesen.
Gilbert Silvester ist nicht einmal ein Ritter von der traurigen Gestalt. Gerade einmal zum Knappen in der akademischen Welt hat er es gebracht. Privatdozent ist er, ein mäßig bezahlter. Von Zeitvertrag zu Zeitvertrag zu Projektarbeit hat er sich durchgehangelt.
Seine Frau ist Gymnasiallehrerin, sehr beliebt, sehr kommunikativ, sehr erfolgreich im Bereich der Junglehrerfortbildung. Er hingegen ist aktuell Bartforscher. Süffisant beschreibt Marion Poschmann dieses Projekt: gesponsert von der Filmindustrie des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, einer feministischen Organisation und der jüdischen Gemeinde der Stadt Köln. Forschungsinhalt: die Wirkung von Bartdarstellungen im Film unter Berücksichtigung von Aspekten der Kulturwissenschaft und der Gendertheorie, der religiösen Ikonografie und von Fragen nach der Möglichkeit philosophischer Expressivität im Medium des Bildes.
Poesie und Leben
Seine Aufgabe ist es, in die Kunstgeschichte einzutauchen, Bartdarstellungen zu sammeln. Wobei die Projektvorabbeschreibung wie stets das Ergebnis der „Forschung“gleich vorwegnimmt. So satirisch, so abstrus. Und so aus der digitalen Gegenwart gefallen. Wie auch Gilbert, der hartnäckig mit einem Füllfederhalter in ein papierenes Notizbuch schreibt und von seinen Studenten Umgangsformen einfordert.
Lost in translation ist er. Er irrt durch die Stadtschluchten Tokios. An einem hinteren Bahnhofswinkel hält er durch freundliche Ansprache einen jungen Japaner vom Selbstmord ab. Als Ver- sager fühlt sich dieser Yosa Tamagotchi, als Schande für seine Eltern, die eine kleine Teehandlung betreiben und ihm das Studium finanziert haben, in dem er sich nun gescheitert fühlt.
Silvester redet so lange auf den jungen Mann ein, bis dieser von der Umzäunung heruntersteigt. Zu zweit machen sie sich nun auf, den Spuren des Pilgerbuches von Matsuo Basho durch Japan zu folgen. Immer wieder geeignete Orte für seinen Suizid nimmt Yosa, eine Ausgabe eines Handbuchs für Selbstmörder im Gepäck, in Augenschein. An Gilbert liegt es nun, Yosa jeden Ort auszureden und ihn so am Leben zu halten. Der eine Platz: unsagbar hässlich. Der andere, ein Wald: überlaufen und unästhetisch. Der dritte, ein Vulkan: lächerlich.
Sie legen die Strecke zu den Kieferninseln im Norden Japans nicht zu Fuß zurück wie einst, im 17. Jahrhundert, Basho. Sondern sie nehmen den Zug. An einer Umsteigestation verliert Silvester Yosa im Gedränge aus den Augen. Dieser taucht nur mehr als Schemen auf. Ist er nur Fantasie gewesen, die Vorstellung eines Begleiters, den einst auch Basho hatte?
Dann erreicht Gilbert Silvester den Ort der Kiefern und der klassischen japanischen Poesie: „Wie Staub fiel die Mittagshitze herab und überzog alle Dinge mit einer pudrigen Unwirklichkeit.“
Doch Betonblöcke sind das Erste, was er sieht. Und Oki no Ishi, der Stein im Meer, die andere Inspiration raffinierter Haikus, ist ein unansehnlicher Tümpel auf einer Kreuzung. Schließlich Matsushima, die Kieferninseln. Mit menschenleerem Geisterhotel, riesigem Parkplatz und Kiefern über Kiefern. Deren Schönheit wird beeinträchtigt durch Bauarbeiten. Abends im Fernsehen Sumo-Ringer, Erdbebenmeldung, eine Keramikausstellung, bunte Werbung.
Natur und Kultur
Einen klaren Blick hat Nippon Gilbert Silvester nicht beschert. Am Ende will er seine Frau Mathilda, die niemals wirklich glaubte, dass er bis nach Japan entwichen ist, nach Tokio einladen, zur Laubfärbung. Alles ganz einfach. Und doch kompliziert anders.
Im Frühsommer 2014 war die 1969 in Essen geborene, seit 1992 in Berlin lebende Marion Poschmann Stipendiatin des GoetheInstituts Villa Kamogawa in Kioto. In diesen Wochen muss sie neugierig Japan angesehen und intensiv zugfahrend sich angeeignet haben. So wie Autorinnen und Autoren gerne, wenn sie Aufenthalte in Rom, Venedig oder Südkalifornien gewährt bekommen, Bücher über Rom, Venedig oder Kalifornien schreiben, so floss Japan in jüngerer Zeit verstärkt in ihre Poesie und ihre Prosa ein.
Die Schwarzkiefernküste Japans tauchte 2016 in gar nicht wenigen Gedichten ihres Lyrikbandes Geliehene Landschaften auf. An einer Stelle las man dort etwa: „Aomori. Osaka. Tottori. / Kannst du / ortskundig sein und doch sinnlosen Sehnsüchten folgen, / dir selber Auskunft verweigern, böse, genial?“
In anderen Poemen verhandelte sie, die 2004 den Gedichtband Grund mit Schafen herausbrachte und jüngst einen erstmals ausgelobten Preis für „Nature Writing“zugesprochen bekam, Schönheit und Verkümmerung, Miniaturwelt und große Natur, Sprache, Rhythmus und das, was einen Tick außerhalb des rationalen Gesichtsfeldes sich bewegt oder steht oder liegt.
Einst, am Ende des 19. Jahrhunderts, schätzte Lafcadio Hearn, ein amerikanischer Journalist, der sich in Japan niederließ und versuchte, sich in einen Japaner zu verwandeln, vor allem das abgelegene und vormoderne Japan als Zivilisation fernab jeglichen Hochdrucks und „außerhalb der Einflusssphäre alles Widernatürlichen der menschlichen Zivilisation“. Poschmann fasziniert dies, erst recht aber die Schroffheit zwischen brutalistischem Heute und zartem Gestern.
Gegen Ende zerfasert dieses Buch merklich. Es verliert seine Form. Die Perspektiven verschwimmen nicht nur, Ich-Erzählung und Er-Bericht wechseln sich bald recht regellos ab, ohne dass dies einzuleuchten vermag. Und auch ohne psychologisch tiefere Einsichten. Haikus werden immer zahlreicher eingestreut, die Welt wird Literatur, wird reine Sprache.
Gilbert selbst schreibt elektronische Nachrichten an seine Frau. Diese lesen sich jedoch so papieren, als würde er aus seinem Vorlesungsduktus nicht mehr herauskommen. Poschmann verliert zunehmend den Zugriff auf ihn. Als komische Karikatur angelegt, wird er Stoiker. Dafür laden sich Naturszenen fast magisch auf.
Ist dies ein rundum gelungener Roman? Zu vieles spricht dagegen: die Abwesenheit einer Entwicklung, das Zurückdrängen des Erzählens zugunsten eines intensiven Beobachtens, einer sehr suggestiven sensitiv-poetischen Prosa. Wären die Kieferninseln, angelegt als Prosagedicht oder als lyrischer Zyklus, nicht besser, berückender, überzeugender gewor
den? Marion Poschmann, „Die Kieferninseln“. € 20,60 / 168 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017
Nichts verleiht so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die menschliche Gemeinheit. So könnte man für dieses Buch das berühmte Motto über die Dummheit variieren, das zu Beginn der Geschichten aus dem Wiener Wald steht.
Der Roman Schwindel von Marta Karlweis ist im selben Jahr erschienen wie Ödön von Horváths geniales „Volksstück gegen das Volksstück“– nämlich 1931 – und hat mit diesem noch viel mehr gemeinsam. Er schildert den Niedergang einer anfangs bürgerlichen Wiener Familie in der Zeit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, in einem kaustisch-brillanten Geschichtenkranz voller Bosheit, Unglück und Verblödung.
Verdienstvoll bemüht sich der Verlag Das vergessene Buch vor allem um Werke von Frauen wie Maria Lazar, Else Jerusalem und eben Marta Karlweis, von der kürzlich bereits der Roman Ein österreichischer Don Juan (1929) neu aufgelegt wurde. Auch ihr letztes literarisches Werk Schwindel. Geschichte einer Realität ist nun dort erschienen, wieder mit einem kundigen Nachwort von Johann Sonnleitner, der Leben und Werk der Autorin nachzeichnet und „die fröhliche Grausamkeit ihrer Menschenbeobachtung“gebührend würdigt.
Lug und Trug
Marta Karlweis war im literarischen Wien gut verankert, zwar von Schnitzler bespöttelt, aber mit Jakob Wassermann verheiratet. Im Exil kam ihre Karriere ins Stocken, sie wurde Psychoanalytikerin in Kanada und war als Autorin vergessen. Wie gut sie alle Schichten ihrer Heimatstadt kannte und sarkastisch beschreiben konnte, zeigte sie vor allem in ihren letzten Romanen: Während Ein österreichischer Don Juan von großbürgerlichen und adeligen Kreisen handelt, spielt sich Schwindel in kleinbürgerlichen bis proletarischen Niederungen ab. Auf drei Generationen einer Familie verteilt, werden von der Autorin zahlreiche ungustiöse Charaktere vorgeführt und Lug und Trug der gar nicht heilen Welt von gestern beschrieben.
Die älteste Generation kommt nur am Rand vor, eine wohlhabende und despotische Großmutter und deren verstorbener Mann. Die Alte ist schwerhörig, versteht sich zwar aufs Kommandieren und aufs Geld, lässt sich dieses aber von einem ihrer Söhne abluchsen, der damit ein heruntergekommenes Zinshaus kauft, ein finanzielles Desaster, das auch noch die Generation der Enkel in schwere Nöte bringen wird.
Von den vier Kindern der herrschsüchtigen alten Besitzbürgerin ist für den Romanverlauf die jüngste Tochter Johanna am wichtigsten, eine beschränkte und zänkische „fette Zwergin“. Von ihren sechs Kindern werden die drei Töchter Malwine, Olga und Fritzi zu den Hauptfiguren dieser komischen Familientragödie.
Der titelgebende Schwindel steckt nicht nur in den betrügerischen Machenschaften um das wertlose Zinshaus, sondern er bezieht sich auch auf die Lügen der jungen Fritzi, die ihrer dementen Mutter Johanna den finanziellen Ruin verheimlicht und eine heile Familienwelt vorgaukelt. Die anderen Töchter sind mit miserablen Männern geschlagen, Olga mit einem verkrachten Musiker, Malwine mit einem Lateinlehrer, der von Höherem träumt, aber auch ein verhinderter Erbschleicher ist, mit berechnendem Blick auf die vermeintlich profitable Mietskaserne.
Marta Karlweis gelingt hier sowohl ein grotesk-satirisches Epochengemälde von glücklosen Hochstaplern und armen Teufeln als auch ein veritabler Großstadtroman über das mehr elende als glänzende Wien der ersten drei Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts. Die hinterhältige Gemütlichkeit und die Topografie der Stadt sind eindrücklich präsent.
Die ominöse Immobilie im Familienbesitz, ein baufälliges Proletarierhaus, diese „Realität“liegt genau „dort, wo der elegante Rennweg die Freude an sich selbst verliert und sich aufgibt in einem Armeleutequartier“. Das muss ungefähr bei St. Marx sein, wo der Rennweg übergeht in die noch tristere Simmeringer Hauptstraße.
Der Ruin einer Familie verläuft hier exemplarisch parallel zum Zerbröseln der Donaumonarchie, in einer steil abfallenden Parabel, von der hochfahrenden Großmutter bis zu ihrer erbarmungswürdigen Enkelin Olga. Sie, die Kronzeugin des Verfalls, wurde einst von ihrem rappelköpfigen Musikergatten gezwungen, ihr gemein- sames Kind zu Bauern wegzugeben. Mehr als zwei Jahrzehnte später verdingt sie sich immer noch mühsam als Näherin und bekommt nun ein ihr unbekanntes Enkelkind aufgehalst, das sie dennoch demütig annimmt.
Erzählt wird diese peinigende Familiengeschichte oft in einem hastigen Stakkato, und sie steht so ziemlich am Beginn der besten Tradition österreichischen weiblichen Schreibens (von Veza Canetti bis Jelinek). Die Figuren sind vielfach „akustische Masken“, wie sie Elias Canetti zur selben Zeit perfektioniert hat, gefangen in ihrem oft aus inneren Monologen bestehenden beschränkten Geplapper. Virtuos wird zugleich ihre Gemeinheit entlarvt und ihre Hilfsbedürftigkeit gezeigt.
Marta Karlweis, „Schwindel. Geschichte einer Realität“. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Johann Sonnleitner. € 22,– / 240 Seiten. DVB-Verlag, Wien 2017 Hinweis: Am 26. September findet ab 19 Uhr in der Buchhandlung Orlando (Liechtensteinstraße 17, Wien) ein Abend zur Wiederentdeckung von Marta Karlweis statt. U. a. diskutieren der Herausgeber Johann Sonnleitner und der DVB-Berleger Albert C. Eibl.