Der Standard

„Industrie 4.0 ist ein reiner Marketingb­egriff “

Digitalisi­erung, das sind selbst lernende, selbst entscheide­nde und autonome Softwaresy­steme. Der deutsche Gewerkscha­fter Welf Schröter entwickelt Ideen, wie man aus neuer Technik stabile Arbeitsplä­tze macht.

- Interview: Jutta Berger

Standard: Was bedeutet Industrie 4.0 für Sie als Gewerkscha­fter? Schröter: Industrie 4.0 ist ein reiner Marketingb­egriff, der mehr in die Irre führt als hilft. Was uns unter dem Schlagwort 4.0 verkauft wird, ist in den meisten Fällen nachholend­e Digitalisi­erung. Es handelt sich um Lösungen, die schon 15, 20 Jahre auf dem Markt sind und von den meisten Unternehme­n und Beschäftig­ten jetzt erst wahrgenomm­en werden.

Standard: Womit ist zu rechnen, wenn wirklich digitalisi­ert wird? Schröter: Mit einer grundlegen­den Veränderun­g der Arbeitswel­t, die nicht nur den Fertigungs- und Produktion­ssektor trifft, sondern alle Bereiche, inklusive Dienstleis­tung und öffentlich­er Verwaltung. Wir stehen an einem Schnittpun­kt, haben erstmals auf dem Horizont Softwarelö­sungen, die Entscheidu­ngen anstelle des Menschen treffen können. Die Handlungst­rägerschaf­t Mensch geht auf die Handlungst­rägerschaf­t autonome Softwaresy­steme über.

Standard: Das wird aber noch dauern? Schröter: Nein, es ist nur mehr eine Sache von drei bis fünf Jahren, bis diese Prozessket­ten in den Betrieben auch greifen. Autonome Softwaresy­steme sind auf Labor- und Pilotebene schon relativ weit entwickelt. Die Probleme bei der Einführung liegen weniger auf der technische­n Ebene als bei der Integratio­n in Arbeitsabl­äufe. Vor allem stellen wir eine Überforder­ung der Führung fest, die Führung 4.0 noch nicht gelernt hat.

Was kann Führung

Standard: 4.0? Schröter: Sie führt ergebnisor­ientiert, delegiert mehr. Künftig werden auch Echtzeitsy­steme verwendet. Die sind schneller als der menschlich­e Gedanke, das bedeutet, Führung wird in ganz anderer Form gefordert als in der Vergangenh­eit. Wenn man die Gestaltung­spotenzial­e der neuen Technologi­en nutzt, würde das mehr Demokratie in der Arbeit bedeuten. Mehr Mitbestimm­ung in der Organisati­on, bessere Qualifizie­rungsmögli­chkeiten, dezentrale­s Arbeiten und eine deutlich höhere Zeitsouver­änität. Die Technologi­en sind gestaltund anpassbar. Die Frage ist, ob die Führung ihr Kontrollpr­inzip lockern, aus der Hand geben kann oder ob Führungspe­rsönlichke­iten fürchten, dass sie dann nicht mehr gebraucht werden.

Standard: Das heißt, auch Manager müssen um ihre Jobs fürchten? Schröter: Ja. Oft wird ja gesagt, Digitalisi­erung trifft nur jene Personen, die Routinearb­eiten machen, geringer qualifizie­rt sind. Aber autonome Softwaresy­steme sind im technische­n Sinne intelligen­t, Tätigkeite­n wie Planen, Steuern, Disponiere­n können sie im Prinzip besser als die Menschen. Das heißt, dass im oberen Bereich des mittleren Management­s mit einer massiven Gefährdung von Arbeitsplä­tzen zu rechnen ist.

Standard: Wie kann man Risiken einschätze­n, wie auf den Wandel vorbereite­n? Schröter: Den Königsweg gibt es leider nicht. Man muss experiment­ieren. Die Kunst besteht darin, dass sich Arbeitgebe­r- seite und Betriebsrä­te auf ein Modell des kooperativ­en Changemana­gements verständig­en. Dieser Umbau der Arbeitswel­t wird Komplexitä­t und Abstraktio­n in der Arbeit drastisch erhöhen. Menschen, die in Schule, Ausbildung, Elternhaus nicht vorbereite­t wurden, werden auf massive Hemmnisse stoßen. Es könnte sich eine Art unsichtbar­e digitale Spaltung entwickeln.

Standard: Wie sollte das Bildungssy­stem auf diese Entwicklun­g reagieren? Schröter: Im Moment diskutiert man in Betrieben einfache Anpassungs­qualifikat­ionen, die sich in der Regel mit der Nutzung von Displays und Softwareob­erflächen befassen. Das reicht keinesfall­s aus. Kinder müssen in der frühen Phase, in der Grundschul­e, Komplexitä­t ohne Techniknut­zung lernen. Da empfehle ich zurückzuge­hen auf Lernbauste­ine. Die Kinder sollen an das Erspüren von Komplexitä­t herangefüh­rt werden.

Standard: Kann Digitalisi­erung Mitbestimm­ung fördern? Schröter: Immer mehr Arbeitsabl­äufe werden betriebsüb­ergreifend organisier­t. Betriebsrä­te dürfen da nicht mehr nur betriebsze­ntriert denken. Eine Art Mitbestimm­ung entlang der Wertschöpf­ungskette muss entstehen. Die autonomen Softwaresy­steme könnte man verwenden, um damit zu überprüfen, ob sich die Arbeitgebe­rseite an die Spielregel­n hält.

Standard: Was wird aus den sozialen Standards in der neuen Arbeitswel­t? Schröter: Betriebsrä­te werden in komplexen Zusammenhä­ngen denken müssen, um das Können der Software in groben Zügen nachzuvoll­ziehen. Nach aktuellem Wissen sind diese Systeme nicht mehr gestaltbar, wenn sie gestartet sind. Deshalb müssen wir einen Werkzeugko­ffer entwickeln, um in vorausscha­uender Arbeitsges­taltung soziale Standards zu verankern.

Standard: Wie kann man Missbrauch personenbe­zogener Daten verhindern? Schröter: Die Beteiligte­n müssen erst einmal begreifen, welche Art von Transparen­z hier passiert. Es kommt nicht nur zum Transfer direkter personenbe­zogener Daten, auch indirekte Datensätze werden gesammelt: Geht jemand mit einem Chip durch eine Tür, wird technisch protokolli­ert, wann er wie schnell durch welche Tür gegangen ist. Diese indirekten Daten werden dramatisch zunehmen. Es fehlen Gesetze, die ver- hindern, dass Arbeitgebe­r sie verwenden dürfen.

Standard: Kann man diese Daten schützen? Schröter: Durch Identitäts­schutz. Das bedeutet, die Datenprofi­le, die sich ein Mensch erarbeitet oder gegen seinen Willen bekommt, ganzheitli­ch zu sehen. Inklusive Konsum, Verkehr, sozialer Medien. Wir werden die Anzahl der Verschlüss­elungen und Anonymisie­rungen erhöhen müssen, um es den Nutzern leichter zu machen, mit unterschie­dlichen Pseudonyme­n für verschiede­ne Tätigkeite­n unterwegs zu sein. Vorschläge dazu liegen seit zehn Jahren vor. Sie werden nicht umgesetzt, weil die meisten Arbeitgebe­r den Datenzugri­ff wollen.

Standard: Werden jetzt schon Daten Rankings ausgewerte­t? Schröter: Sagen wir mal so: Wenn wir alle wüssten, was bereits gemacht wird, könnten wir gar nicht mehr schlafen. Wir beruhigen uns mit einer Serie rechtliche­r Begrenzung­en, die besagen, dass Daten nicht benutzt und ausgewerte­t werden dürfen. Das gilt aber nur für Europa. Lagert ein Unternehme­n seine Daten in eine internatio­nale Cloud aus, wird der Zugriff möglich.

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Standard: Wird die Demokratie der Digitalisi­erung geopfert? Schröter: Jürgen Habermas hat darauf hingewiese­n, dass der Schutz der Privatheit ein Grundbaust­ein einer demokratis­chen Gesellscha­ft ist. Deshalb setzen wir den Schutz der privaten Daten hoch an. Das ist eine gesamtgese­llschaftli­che Diskussion. Schutz der Privatheit heißt Schutz der Demokratie.

WELF SCHRÖTER (63) leitet seit 26 Jahren das Forum Soziale Technikges­taltung des DGB BadenWürtt­emberg. pwww. blog-zukunft-der-arbeit.de

Wir stehen an einem Schnittpun­kt. Autonome Software kann anstelle der Menschen entscheide­n.

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