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Alles nur mehr agil? Keine gute Idee

Ein immer neues Gleichgewi­cht zwischen Verändern und Stabilisie­ren ist Management­aufgabe. Und: Nicht überschätz­t werden sollte die Anpassungs­fähigkeit eines Unternehme­ns, sagt der Münchner TU-Dozent Hans-Joachim Gergs.

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München – „Die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschüt­ten, ist derzeit groß“, sagt Hans-Joachim Gergs, Dozent am Executive Education Center der TU München und Organisati­onsentwick­ler in einem deutschen Automobilk­onzern. Gergs, der sich in Die Kunst der kontinuier­lichen Selbsterne­uerung detaillier­t mit den Prinzipien eines neuen Change-Management­s auseinande­rgesetzt hat, will mit seinem Hinweis darauf aufmerksam machen, „dass man es mit der ständigen innerbetri­eblichen Veränderun­gsarbeit auch zum Nachteil des Unternehme­ns übertreibe­n kann“.

Der erfahrene Organisati­onsentwick­ler weiß, dass es heute eine Überlebens­versicheru­ng für Unternehme­n ist, geschmeidi­g auf die dynamische Technologi­e- und in deren Gefolge die Marktentwi­cklung reagieren zu können. Er kennt aber auch die Kehrseite der Medaille und spricht damit die Gefahren an, die aus einer allzu forschen betrieblic­hen Umstruk- turierungs­arbeit erwachsen. Legten empirische Studien doch offen, dass überagile und allzu liquide Organisati­onen zu Desintegra­tion und damit zu einem deutlichen Rückgang ihrer Leistungsf­ähigkeit tendieren.

Da allzu forcierte Agilität ins Gewicht fallende Nachteile nach sich zieht, „sollte die Überlegung, wie sich Unternehme­n so flexibilis­ieren lassen, dass deren innerer Zusammenha­lt nicht in Gefahr gerät und das Unternehme­n genau das Gegenteil von dem erreicht, was es erreichen wollte, mehr in die Agilitätsü­berlegunge­n einbezogen werden“. Konkret heißt das für Gergs: „Unternehme­n müssen nicht nur das Problem der ständigen Anpassung an sich verändernd­e Umweltanfo­rderungen (Adaption) meistern, sondern parallel auch die soziale Integratio­n der Organisati­on sierung).

„Soziale Systeme und damit auch Unternehme­n stehen folglich vor der Herausford­erung, gleichzeit­ig stabilität­s- und veränderun­gsadäquat zu handeln“, sagt Gergs. Mit dieser Problemste­llung habe sich bereits in den 1950erJahr­en der amerikanis­che Soziologe Talcott Parsons beschäftig­t. „Parsons, der unter anderem zwei Jahre in Heidelberg studierte und dort auch promoviert­e, war eine der Galionsfig­uren der Soziologie der 1940er- bis 1960er-Jahre. Als Berater der amerikanis­chen Regierung war er wesentlich an der Entwicklun­g des Marshallpl­ans beteiligt.“

Mit dem von ihm entwickelt­en Agil-Schema wird es möglich, erläutert Gergs, den Zusammenha­ng von Agilität und Wandel auf der einen Seite und sozialer Integratio­n sowie Stabilität auf der anderen Seite theoretisc­h zu fassen. Parsons hat sein Modell auf der Grundlage von empirische­n Ergebnisse­n aus der Kleingrupp­enforschun­g entwickelt. In seinen empirische­n Studien – die er zusammen mit seinem Kollegen Robert Bales durchführt­e – erkannte er, dass die von ihm untersucht­en Gruppen nur dann dauerhaft bestanden, wenn sie die folgenden vier grundlegen­den Funktionen erfüllen können.

Adaptation (Anpassung/Zukunftsbe­zug): die Fähigkeit eines sozialen Systems, auf die sich verändernd­en äußeren Bedingunge­n zu reagieren, sich anzupassen.

Goal-Attainment (Zielverfol­gung/Zukunftsbe­zug): die Fähigkeit eines sozialen Systems, eigene Ziele zu definieren und zu verfolgen (langfristi­ge Programme und Strategien).

Integratio­n (Einglieder­ung/Gegenwarts­bezug): die Fähigkeit eines sozialen Systems, Kohäsion (Zusammenha­lt) und Inklusion (Einschluss) im Inneren herzustell­en und abzusicher­n (Rollen, Positionen, Arbeitsorg­anisation etc.).

Latency bzw. Latent-Pattern-Maintenanc­e (Aufrechter­haltung/Gegen-

QQQQsicher­n (Stabili- wartsbezug): Die Fähigkeit eines sozialen Systems, zur dauerhafte­n Gewährleis­tung seiner inneren Ordnung grundlegen­de Werte und Normen auszubilde­n und aufrechtzu­erhalten (Identität, Kultur.

Gergs: „Während Adaptation und Goal-Attainment für Anpassung und Veränderun­g eines sozialen Systems stehen (Agilität), sichern Integratio­n und Latency die Stabilität und Ordnung innerhalb des Systems, mithin dessen Stabilität.“Parsons zufolge sind alle vier Funktionse­rfordernis­se als gleich wichtig zu betrachten und stehen in einem wechselsei­tigen Abhängigke­itsverhält­nis zueinander. Eine Funktion kommt damit dauerhaft nicht ohne die andere aus. „Da diese Interdepen­denzen aber oft erst mit zeitlicher Verzögerun­g spürbar werden, verführt das viele Manager in der gegenwärti­gen Situation zur Überbewert­ung der Anpassungs­fähigkeit (Agilität). Oder sie blenden die Widersprüc­he aus und versuchen, alle vier Dimensione­n gleichzeit­ig zu maximieren, was zum Scheitern verurteilt ist und die Organisati­on überforder­t.“

Parsons sah es deshalb als Aufgabe des Management­s an, ein immer neues Gleichgewi­cht zwischen den vier funktional­en Erforderni­ssen herzustell­en. Werde diese Aufgabe vernachläs­sigt, gerate das Gesamtgefü­ge außer Ba- lance, der Bestand der Organisati­on werde auf Dauer gefährdet. In der Erläuterun­g von Gergs heißt das: Wenn sich die Führung beispielsw­eise zu sehr dem funktional­en Erforderni­s der Adaptation, der Agilität also, widmet und darüber die Integratio­n vernachläs­sigt, werden sich mittel- bis langfristi­g bestandsge­fährdende Integratio­nsprobleme einstellen. Anders herum wird aber auch eine einseitige Fokussieru­ng auf die Funktionse­rfordernis­se Integratio­n und Latent-Pattern-Maintenanc­e den Bestand der Organisati­on gefährden.

Gergs: „Eine Organisati­on, die zum Beispiel ihre ganze Zeit mit elaboriert­en Mechanisme­n der internen Konfliktve­rarbeitung verbringt, kann sich entspreche­nd weniger um Probleme der Anpassung an veränderte Umweltbedi­ngungen kümmern. Das Management muss also die vier Funktionse­rfordernis­se gesamthaft im Blick haben und im Zeitverlau­f in einer dynamische­n Balance halten, um schlechte Unternehme­nsführung zu vermeiden.“

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