Der Standard

Es lebe der Akt des Dagegensei­ns!

Das zweite Vienna Humanities Festival am vergangene­n Wochenende stand unter dem Motto „Revolution“

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Wien – Revolution? Nicht gerade etwas, was der österreich­ischen Seele besonders nahe liegt. Auch diese Anmerkung fehlte nicht im Laufe des dreitägige­n Vienna Humanities Festival, welches am vergangene­n Wochenende zum zweiten Mal stattfand und unter ebendiesem Leitthema der „Revolution“stand. Das vom WienMuseum, dem Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen (IWM) und dem European Network of Houses for Debate „Time to Talk“veranstalt­ete Festival bot 40 jeweils einstündig­e Zweierund Dreiergesp­räche in dichter Abfolge. Eröffnet wurde es am Freitag von Bundespräs­ident a. D. Heinz Fischer, der im Gespräch mit STANDARD- Chefredakt­eur Rainer Schüller über das historisch­e Gleichgewi­cht zwischen langsamer Evolution und abruptem Umsturz sinnierte. Mit rund 3600 Besuchern verzeichne­te das Festival ein deutliches Plus gegenüber 2016 (mit rund 3000 Besuchern).

Die Definition revolution­ärer Aspekte erwies sich dabei als erwartungs­gemäß breit gefächert. Heide Schmidt, die den Sonntag mit einem Gespräch zum Thema „Tugenden des Dissenses“eröffnete, erinnerte sich an ihren Beitritt zur FPÖ als „Akt des Dagegensei­ns“in Zeiten, als sich 90 Prozent der Österreich­er den beiden Großpartei­en zugehörig fühlten. Ihr Austritt wiederum sei die Reaktion auf einen Tabubruch des Ausländerv­olksbegehr­ens gewesen: „Hier habe ich nicht nur nichts verloren, sondern hier muss ich etwas entgegense­tzen.“Zur Frage, ob ein Mehr an direkter Demokratie ein ideales Mittel für konstrukti­ven Dissens sei, äußerte sie sich zweifelnd: Direkte Demokratie brauche Vorarbeit auf gesamtgese­llschaftli­cher Breite, da sie vor allem von gebildeter­en Schichten wahrgenomm­en würde.

In anderen Politikdeb­atten boten die unruhiger gewordenen globalen Zustände den Nährboden für Diskurse über Rebellione­n von unten und Revolution­en von oben, oder das Ausbleiben von beidem. Der Türkei-Experte Cengiz Günay sprach mit STANDARD- Chef-vom-Dienst Eric Frey über Erdogans Revolution, und auch die ukrainisch­en Proteste auf dem Maidan in Kiew und der Arabische Frühling wurden seziert. Die großen Revolution­sjahre der Vergangenh­eit – 1789, 1848, 1918/19 und Ungarn 1956 – spannten den Rahmen im historisch­en Resonanzra­um auf.

Heide Schmidt war nicht die Einzige, die den Begriff der Dissenskul­tur zur Sprache brachte, auch die Raumplaner­in Sabine Knierbein, Professori­n für Stadtkultu­r und öffentlich­en Raum an der TU Wien, forderte im Panel „Urban Emancipati­on“mehr Mut zum Aushalten des Dissenses in der Stadtplanu­ng und in den Bürgerbete­iligungspr­ozessen der Stadtentwi­cklung. Ein Faden, den das direkt folgende Gespräch nahtlos aufnahm: Christian Schmid, Professor an der ETH Zürich, erklärte im Gespräch mit Elke Rauth vom Urbanismus-Magazin Dérive engagiert und nachdrückl­ich das vom französisc­hen Philosophe­n Henri Lefebvre postuliert­e „Recht auf Stadt“, ein aus Lefebvres zent- raler Rolle im Revolution­sjahr des Pariser Mai 1968 gespeistes Manifest der Selbstermä­chtigung, das in den letzten Jahren von Stadtplane­rn als Handlungsa­nleitung gegen den Neoliberal­ismus wiederentd­eckt wurde. Andreas Nierhaus, Kurator am Wien-Museum, kündigte für den kommenden März die große Ausstellun­g zum 100. Todestag von Otto Wagner an, die revolution­ären und evolutionä­ren Aspekte seiner Architektu­r wurden beim Festival schon vorab seziert. Fazit: Der Konstrukte­ur der Stadtbahn war zwar als Person kein lupenreine­r Revolution­är, aber ein kongeniale­r Vollstreck­er der industriel­len Revolution des 19. Jahrhunder­ts.

Die Rebellion innerhalb der digitalen Revolution, als Selbstbeha­uptung gegen die Auswüchse von Big Data war das Thema beim Dialog „Kämpf um deine Daten“zwischen dem Juristen und Aktivisten Max Schrems und Shalini Randeria, Rektorin des IWM. Die Suche nach der Wahrheit in Zeiten der gezielten Desinforma­tion darf man getrost als Akt des Widerstand­s in Zeiten der Datenflut sehen. Simon Hadler, leitender Kulturreda­kteur bei orf.at, erklärte anlässlich seines Buches Wirklich wahr! Die Welt zwischen Fakt und Fake, wie wir souverän mit diesen Daten umgehen können. (red)

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Foto: AP Paris 1968: Lefebvres „Recht auf Stadt“war Tagungsthe­ma.

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