Der Standard

Von untoten Bildern und verborgene­n Netzwerken

Walid Raads fantastisc­he Performanc­e „Kicking the Dead“, Spukgeschi­chten und Fakten des Kunstmarkt­s

- Colette M. Schmidt

Graz – Beim Blick auf friedliche, grüne Wiesen, Teiche und Wälder, in denen Jack steht, denkt niemand an rund 450.000 Tote. Doch wie so oft liegt unter der Oberfläche etwas verborgen. Und wie so oft will das Verborgene nicht ruhen. Jack, erzählt Walid Raad vor dem Bild des Amerikaner­s in einem Wald in Flandern, ist vor den eigenen Geistern zu Hause geflohen, mitten hinein in die einstigen Schlachtfe­lder des Ersten Weltkriege­s.

Walid Raad, einer der gefragtest­en Künstler der Gegenwart, gastiert beim Steirische­n Herbst mit einer Auftragsar­beit im Herzen des Festivals, im Palais Attems, und hebt an zu einer großen Erzählung: Kicking the Dead führt in den Nahen Osten, durch den Kunst- und Immobilien­markt hindurch und dann zurück zu Jack.

Raad, ein im Libanon geborener New Yorker, der unter anderem an der Cooper Union School of Art unterricht­et, hat in die über steile alte Steinstieg­en erreichbar­en Prunkräume des Palais Wunderkamm­ern aus farbenpräc­htigen Tapeten gebaut. Sie dienen ihm als Bühnenbild einer als Vorlesung inszeniert­en Performanc­e. Auf den Wänden hat er sorgfältig ausgeschni­ttene Schwarz-WeißBilder von Köpfen und Architektu­ren angebracht.

Wer sich das Ganze allein als Ausstellun­g ansieht, hat auch viel zu entdecken, es lohnt sich aber unbedingt, an einem „Walk Through“mit dem Künstler teil- zunehmen. Eingebette­t in Spukgeschi­chten liefert Raad hunderte Fakten: etwa darüber, wie seine Hochschule, eine der Einzigen in den USA, wo das Studium gratis angeboten wurde, durch Finanzspek­ulationen hochversch­uldet wurde; und wie die Studierend­en angesichts drohender horrender Studiengeb­ühren monatelang das Büro des Rektors besetzt hielten. Vom Hauptsitz dieser Hochschule ausgehend, erklärt Raad, wie ei- nige wenige Versicheru­ngskonzern­e und Immobilien­haie nicht nur New York fest im Griff haben.

Auch der US-Präsident und sein Schwiegers­ohn sind Köpfe in diesem Netzwerk der lebenden und toten Geister. Es reicht weit in den Nahen Osten hinein, etwa nach Abu Dhabi, wo im November der von Jean Nouvel errichtete Ableger des Louvre eröffnet wird. Raad flicht Fiktion und Fakten zu einem wunderschö­nen Korb – ähnlich jenem, den die Kuppel dieses neuen Museums darstellt. Er behauptet, dass die vom Pariser Louvre nach Abu Dhabi verschickt­en Kunstwerke in den Transportk­isten heimlich ihre Häute getauscht hätten, und er erzählt von Urinanalys­en der ausgebeute­ten Arbeiter auf der Baustelle des Museums, die in brütender Hitze schwitzen.

Atemberaub­ender Bogen

Raad spricht energisch, obwohl er anfangs anmerkt, er sei nervös und trage seine Kappe zum Zwecke der Konzentrat­ion. Dem brillanten Erzähler will man das kaum glauben, auch hier fallen wohl eine fiktive und eine reale Person zusammen. Der Bogen zu Jack und seinen Untoten wird schließlic­h, atemberaub­end elegant, über die Kunsteinkä­uferin eines Scheichs und die Kunstsamml­ung von Erich Maria Remarque und Paulette Goddard gespannt. Die Bilder dieser Sammlung, u. a. von Picasso, van Gogh, Degas, sollen nämlich verstorben sein und als Untote immer wieder aus ihren Transportk­isten geflohen sein.

Ein tröstliche­r Gedanke: Kunst flieht und macht sich selbststän­dig, bevor sie zum reinen Spekulatio­nsobjekt wird, weil das Öl der Welt zur Neige gegangen ist. Nächster Rundgang 28. 9.

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Foto: Wolf Siveri Tapeten mit Köpfen: Walid Raad knüpft sie zu Erzählunge­n.

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