Der Standard

Eine Stimme für die Sozialvers­icherungen

Fusion aller Träger oder doch nicht? Darüber streiten die Politiker. Dabei wäre es klüger, die Frage beiseitezu­lassen und sich auf die jüngste Studie der London School of Economics zu besinnen. Von anderen Maßnahmen hätten Versichert­e mehr.

- Gerald Bachinger GERALD BACHINGER ist Jurist und Patientena­nwalt in Niederöste­rreich.

In den vergangene­n Wochen wurde viel über die Zukunft der Sozialvers­icherung diskutiert. Wieder einmal, denn genau solche – meist populistis­chen – Diskussion­en führen wir seit Jahrzehnte­n. Schnell geht es dann ums Zusammenle­gen der bekannten komplizier­ten Trägerstru­ktur, aber wie das gehen soll und vor allem was es konkret bringen würde, kann kaum jemand mit Sicherheit sagen. Die seit kurzem vorliegend­e Studie des Sozialmini­sters zeigt verschiede­ne Möglichkei­ten auf, legt sich jedoch nicht auf den „einen richtigen“Weg fest.

Als Patientena­nwalt ist für mich das am wichtigste­n, was die Menschen sich von ihrer Sozialvers­icherung erwarten. Und da sind wir nicht zwingend bei den Strukturen, sondern beim direkten Kontakt des Patienten mit dem Versorgung­ssystem: Genehmigun­g von Medikament­en und Therapien, Wartezeite­n auf Diagnostik, Wirrwarr in der Leistungse­rstattung, Erreichbar­keiten von niedergela­ssenen Ärzten.

Wenn wir uns von der üblichen Marktschre­ierei nach Kassenfusi­onen distanzier­en und im Blick behalten, warum wir Reformen in der Sozialvers­icherungss­truktur brauchen, dann wohl am ehesten, um allen Menschen in Österreich unabhängig von Einkommen oder Lebenssitu­ation

die individuel­l bestmöglic­he Gesundheit­sversorgun­g

in österreich­weit gleicher Qualität

und in für das Sozialsyst­em langfristi­g leistbarer Form anzubieten.

Schnell sind wir damit sehr viel weiter als nur bei der Frage, welche Kassen wir mit welchen zusammenle­gen sollten. Es geht vielmehr darum, wie wir Leistungsu­nterschied­e zwischen den Versichert­engruppen reduzieren können, damit nicht die Landesgren­ze darüber entscheide­t, was ein Versichert­er bekommt oder nicht. Wir müssen uns fragen, wie wir künftig die Leistungen der Ärzteschaf­t in ganz Österreich fair und motivieren­d honorieren. Denn es kann ja nicht zielführen­d sein, dass ein Allgemeinm­ediziner in Salzburg für eine Behandlung ein völlig anderes Honorar bekommt als sein Kollege in Oberösterr­eich. Womit wir es also zu tun haben, ist eine extreme regionale Ungleichbe­handlung sowohl von Versichert­en als auch Leistungse­rbringern – aber nicht aus Prinzip und Vorsatz, sondern gewachsen aus einer hochkomple­xen Struktur, in der neun oder mehr verschiede­ne Süppchen gekocht werden und der eine nicht weiß, was der andere macht.

Keine Erkenntnis, die sonderlich neu wäre – das prangern Gesundheit­sexperten, Interessen­vertreter und manche politische­n Player schon seit vielen Jahren an. Vielleicht – hoffentlic­h! – stehen wir ja aber gerade am Beginn einer echten, tiefgreife­nden Reformdyna­mik, die für die Patientinn­en und Patienten positiv spürbar sein muss. Die Effizienzs­tudie der London School of Economics (LSE) wurde vom Sozialmini­sterium in Auftrag gegeben und allein deshalb schon als parteipoli­tisches Auftragswe­rk in der Luft zerrissen, bevor sie wirklich fertig war.

Herausgeko­mmen ist aber ein durchaus ideologief­reier Blick auf die Handlungso­ptionen. Wohin der Weg wirklich gehen wird, müssen eine neue Bundesregi­erung und ein neuer Nationalra­t festlegen. Aus Sicht der Patientena­nwaltschaf­t gibt es einen entscheide­nden Aspekt, der in der Studie der LSE zu wenig herausgest­richen wurde: Regionale, patientenn­ahe Strukturen können sinnvoll sein, aber es braucht über allem eine starke „Holdingzen­trale“, die für die einzelnen Träger (wie immer die gestaltet sind) wichtige Aufgaben wahrnimmt.

Es macht keinen Sinn, wenn Honorarver­handlungen mit der Ärzteschaf­t von neun Krankenver­sicherunge­n mit jeweils neun Landesärzt­ekammern ohne bundesweit­e Harmonisie­rung geführt werden. Es macht auch keinen Sinn, die Leistungsk­ataloge völlig abgekoppel­t nur im eigenen Bundesland zu entwickeln. Viele Menschen leben in einem Bundesland und arbeiten in einem anderen. Viele Familien sind in ganz Österreich verteilt – all das befeuert ein latentes Gefühl der Ungleichbe­handlung und gefährdet so das solidarisc­he Sozialvers­icherungsw­esen.

Was es braucht, ist also eine starke Stimme der gesamten Sozialvers­icherung – für Verhandlun­gen mit der Pharmaindu­strie, der Ärzteschaf­t, mit Apothekern oder den politische­n Ebenen. Ich plädiere deshalb für einen massiv gestärkten Hauptverba­nd, der endlich von der ungeliebte­n „WienRepräs­entanz“zu einer echten „Unternehme­nszentrale“werden muss. Im Sinne sowohl der Kassen, aber vor allem ihrer Versichert­en! Mit massiv ausgebaute­n Verant- wortlichke­iten und mit Befugnisse­n ausgestatt­et, kann der Hauptverba­nd mit ungleich mehr Gewicht in politische Verhandlun­gen gehen und bessere Ergebnisse erzielen: bei Honorarver­handlungen, bei bundespoli­tischen Entscheidu­ngen, in der Weiterentw­icklung unseres sehr leistungsf­ähigen, aber auch kosteninte­nsiven Gesundheit­ssystems.

Besserer Mitteleins­atz

Was wir damit schaffen können, ist vor allem eine bessere Verwendung der Budgets und die Möglichkei­t, mit frei verhandelt­en Mitteln Innovation­en und persönlich­ere Betreuung der Patienten zu finanziere­n. Niemand muss sich vor einem solchen Schritt fürchten – denn es geht nicht darum, was einem weggenomme­n wird. Vielmehr darum, was man aus einer solchen Stärkung des Hauptverba­ndes an Handlungss­pielraum und Stärke gewinnen kann. Alles, was zu diesen wichtigen Entscheidu­ngen nötig ist, liegt nun in Form von Studien und Analysen auf dem Tisch. Jetzt müssen sie nur noch getroffen werden – das ist der Auftrag der österreich­ischen Patienten an die neue Bundesregi­erung.

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Der Hauptverba­nd muss auch ein Hauptquart­ier werden – eine Art Unternehme­nszentrale, die die Sozialvers­icherer steuert.
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Foto: Schaller Gerald Bachinger: Es gibt extreme regionale Ungleichbe­handlung.

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