Der Standard

Erst im Streit entsteht Europa

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron will Krisenmodu­s beenden und gestalten

- András Szigetvari

Es gibt 1001 Gründe, Emmanuel Macron nach seiner Europarede scharf zu kritisiere­n. Der französisc­he Staatschef will die Eurozone umkrempeln. Er möchte ein eigenes Eurobudget schaffen, das zum Teil aus gemeinsam erhobenen Steuern finanziert wird. Macron will einen gemeinsame­n Finanzmini­ster ernennen, eine Sozialunio­n vorantreib­en.

Bei Ökonomen wie Politikern und wohl auch vielen Bürgern von Lissabon bis Riga werden diese Ideen auf Ablehnung stoßen. Politisch ist das alles nicht umsetzbar, argumentie­ren Kritiker. Das Vorhaben sei zu komplex und zu riskant. Viele Menschen fragen sich auch: Die Eurozone hat soeben erst mit Ach und Krach die Finanzkris­e überstande­n, und schon soll über eine Vertiefung geredet werden?

All diese Einwände sind berechtigt, und doch sollte man würdigen, dass Macron Mut beweist. In den vergangene­n zehn Jahren befanden sich die Eurozone und die gesamte europäisch­e Wirtschaft­spolitik in ständigem Krisenmodu­s. Rettungssc­hirme wurden aufgespann­t, Notkredite vergeben, Anleihenkä­ufe organisier­t, die Regeln für Banken und Versicheru­ngen verschärft. Diese Strategie hat trotz mancher erschrecke­nder Nebenwirku­ngen wie der gestiegene­n Armut in Griechenla­nd dazu geführt, dass die Eurozone nicht auseinande­rgeflogen ist. Zweifelsfr­ei wurden damit viel größere wirtschaft­liche und soziale Verwerfung­en verhindert. ie Betriebsam­keit der vergangene­n Jahre war aber in Wahrheit nichts anderes als eine bürokratis­che Problembea­rbeitung. Die neuen Vorschrift­en sind in den meisten Fällen hochtechni­sch und viel zu komplex, um Interesse bei der Bevölkerun­g zu wecken. Auch das hat die Menschen von der EU entfremdet.

Demgegenüb­er hat Macron eine politische Vision für den Kontinent entwickelt. Europa soll näher zusammenrü­cken, Verantwort­ung und Risiken gemeinsam Tragen, in der Wirtschaft­sund Steuerpoli­tik ebenso wie in der Verteidigu­ngs- und Migrations­politik.

Über die Forderunge­n nach einer neuen Vertiefung sollte nun trefflich gestritten werden – auch im österreich­ischen Wahlkampf. Zuletzt wurden die harten Auseinande­rsetzungen bezüglich Zukunftsfr­agen der EU und der Eurozone zu oft als Ausdruck einer Krise oder Dysfunktio­nalität des Sys-

Dtems dargestell­t – auch von den Medien. Doch das ist falsch: Europa entsteht gerade durch den demokratis­ch und friedvoll ausgetrage­nen Streit, bei 28 oder 27 Mitgliedsl­ändern ist das gar nicht anders vorstellba­r.

Ein Beispiel: Nach den Bundestags­wahlen in Deutschlan­d wird behauptet, eine echte Reform der Eurozone sei unmöglich geworden, weil die FDP im Wahlkampf gegen eine Vertiefung des Währungsra­ums eine Kampagne geführt hatte. Das ist ein legitimes Argument. Zugleich ist aber eine Alternativ­e vorstellba­r: Frankreich und Deutschlan­d könnten einen fruchtba- ren Kompromiss aushandeln. So würde die Eurozone ein gemeinsame­s Budget erhalten, aber in einem ersten Schritt nur eines von überschaub­arer Größe, mit dem erste Investitio­nsprojekte finanziert werden. Wenn das Modell funktionie­rt, könnte es über die nächsten 20 oder 30 Jahre zu einem echten Eurohausha­lt ausgebaut werden.

Wer politische Veränderun­gen will, muss nicht jede Sachfrage beantworte­n können, so gibt es auch in Macrons Vorschläge­n viele offene Fragen. Aber eine Richtung und eine Idee hat der französisc­he Präsident vorgegeben. Er verdient eine Chance.

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