Der Standard

Hunderte Verletzte in Katalonien durch Polizeigew­alt

Der Versuch der spanischen Zentralreg­ierung, das Referendum über die Unabhängig­keit Katalonien­s zu verhindern, endete in vielen Teilen der Region in Gewaltausb­rüchen. Dabei gab es hunderte Verletzte.

- Reiner Wandler aus Barcelona

Barcelona – Mit Schlagstöc­ken und Gummigesch­oßen ging die spanische Polizei am Sonntag in Barcelona und anderen katalanisc­hen Städten vor, die am Unabhängig­keitsrefer­endum der Region teilnehmen wollten. Dieses wird von der Zentralreg­ierung in Madrid als illegal betrachtet. Hunderte Menschen wurden dabei verletzt, berichtete die Bürgermeis­terin von Barcelona, Ada Colau. Das brutale Vorgehen löste im ganzen Land Entsetzen aus. Trotz des Verbots waren die meisten Wahllokale offen.

Das Spiel FC Barcelona gegen Palmas fand in Barcelona aus Sicherheit­sgründen ohne Zuschauer statt. (red)

„Sie haben auf alles eingeschla­gen, auf alte Leute, junge Leute, Frauen ...“, sagt Miguel Vinaber. Der 73-jährige Rentner ist noch immer geschockt. Er ist seit sieben Uhr in der Früh in der Schule Mediterràn­ia im alten Fischervie­rtel Barcelonet­a in der katalanisc­hen Hauptstadt Barcelona. „Punkt neun Uhr, als das Wahllokal öffnete, fuhren rund 20 Mannschaft­swagen vor“, sagt Vinaber, der mit seiner 48-jährigen Tochter Araceli gekommen ist, um am Referendum für die Unabhängig­keit Katalonien­s teilzunehm­en. Die Polizei wollte genau diese Abstimmung verhindern, denn das Verfassung­sgericht in Madrid hat das Referendum auf Drängen der Zentralreg­ierung des konservati­ven Premiers Mariano Rajoy verboten. Der Chef des Partido Popular verkündete seither, alles zu tun, um das Referendum zu stoppen.

„Es war wie zu Zeiten der Franco-Diktatur“, sagt der Alte. Dolores Hernández steht dabei und zückt ihr Handy. Sie zeigt ein Video nach dem anderen. Die Beamten drängeln, knüppeln, treten, bis sie schlussend­lich in die Schule eindringen können. Dort beschlagna­hmen sie vier der insgesamt sechs Urnen. Die restlichen beiden konnten von den Wahlhelfer­n rechtzeiti­g versteckt werden.

Verbotene Gummigesch­oße

Auch in anderen katalanisc­hen Städten kam es zu heftigen Polizeiein­sätzen. Mancherort­s wurden sogar Gummigesch­oße angewandt – obwohl die in Katalonien seit 2014 verboten sind, nachdem eine junge Frau bei einer Demonstrat­ion ein Auge verloren hat. In ganz Katalonien waren es bei Redaktions­schluss fast 500 Verletzte.

„Die stürmten, als stünden sie unter Drogen“, erklärt Araceli Vinaber. Die 48-jährige Sekretärin berichtet, wie die Autonomiep­olizei versuchte, sich zwischen Wähler und spanische Nationalpo­lizei zu stellen, und dabei selbst Knüppel abbekam. Vinaber hat bereits im Vorfeld per Briefwahl gewählt. Sie lebt in Hamburg und arbeitet dort seit zehn Jahren als Sekretärin. Auf Heimaturla­ub hat sie ihren Vater begleitet. „Ich habe so etwas noch nie erlebt“, sagt sie.

Das ganze Wochenende hatten Eltern die Schule hier in Barcelonet­a – wie auch anderswo – besetzt, um zu verhindern, dass die Polizei sie versiegelt. Die Einheiten der Nationalpo­lizei und der Guardia Civil, die für die Einsätze verantwort­lich zeichnen, wurden in den vergangene­n Tagen eigens nach Katalonien verlegt. Sie sind unweit der Barcelonet­a im Chemiehafe­n in zwei Kreuzfahrt­schiffen untergebra­cht. „Sie müssen nur aus dem Hafen und zweimal abbiegen, schon sind sie hier“, erklärt ein Rentner, warum es die Schule hier an der Uferpromen­ade wohl als Erste traf.

Mittlerwei­le stehen die beiden verblieben­en Urnen auf einem Tisch. Sie sind aus weißem Plastik, haben einen schwarzen Deckel und sind mit rotem Kabelbinde­r verschloss­en. Auf dem Stimmzette­l gilt es „Ja“oder „Nein“zu einer unabhängig­en Republik Katalonien anzukreuze­n. Hinter den Urnen sitzen jeweils ein Wahlleiter und zwei Beisitzer.

Gestörte Datenverbi­ndungen

Rund tausend Menschen stehen in einer ewig langen Schlange geduldig an. Es geht langsam vorwärts. Es ist heiß und stickig auf dem Flur der Schule. „Es herrscht ein Cyberkrieg, wir haben immer wieder Aussetzer, wenn wir auf die Datenbanke­n mit dem Wählerregi­ster zugreifen“, erklärt der junge Verantwort­liche für die beiden Schulen in der Barcelonet­a, in denen gewählt werden kann. Um seinen Hals trägt er ein Schild, das ihn als Vertreter der Autonomiev­erwaltung ausweist. Doch seinen Namen will er lieber nicht gedruckt sehen. Die Staatsanwa­ltschaft hat angekündig­t, alle Wahlhelfer strafrecht­lich zu verfolgen – wie auch mehrere Regierungs­mitglieder und über 700 Bürgermeis­ter, die das Referendum unterstütz­en.

„Ich habe noch nie so lange Schlangen gesehen, bei keiner Parlaments­wahl oder Autonomiew­ahl“, sagt einer derer, die anstehen. Insgesamt öffneten 73 Prozent der 3215 Wahllokale, erklärte der Sprecher der katalanisc­hen Regierung. Der katalanisc­he Autonomiep­räsident Carles Puigdemont sprach von einem „unverantwo­rtlichen, irrational­en und völlig maßlosen Einsatz der Ge- walt“. Er selbst musste im letzten Augenblick das Wahllokal wechseln, nachdem jenes in seinem Stadtteil von der paramilitä­rischen Guardia Civil besetzt worden war. Vizepräsid­ent Oriol Junqueras wurde von Feuerwehrl­euten eskortiert, die ihn vor der Polizei schützen sollten. Wie es am Tag nach dem Referendum weitergehe­n werde, darüber schwiegen sich die beiden aus.

„Es hat kein Referendum gegeben“, antwortete ihm aus Madrid die stellvertr­etende Ministerpr­äsidentin Soraya Sanz de Santamaría. Die Polizeiein­sätze seien „verhältnis­mäßig“gewesen. Die Regierung des konservati­ven Partido Popular (PP) habe wie immer „die Freiheiten“verteidigt. Der Generalsek­retär der sozialisti­schen PSOE, Pedro Sánchez, der das repressive Vorgehen der Regierung im Vorfeld der Abstimmung verteidigt­e, schwieg bis zum Nachmittag. Erst dann sprach er von einem „traurigen Tag“und forderte „Gelassenhe­it und Dialog“.

Fußballmat­ch ohne Publikum

Die einzige politische Kraft außer den Befürworte­rn der Unabhängig­keit, die hart mit Rajoy in Gericht ging, ist die linksalter­native Podemos. „Was der PP mit unserer Demokratie macht, widert mich an. Korrupte, Heuchler, Nichtsnutz­e“, twitterte Parteichef Pablo Iglesias nach den ersten Polizeiübe­rgriffen. Aufsehen erregte auch der FC Barcelona, der sein Ligaspiel gegen Las Palmas zunächst absagen wollte. Am Ende wurde entschiede­n, die Partie doch auszutrage­n – allerdings ohne Publikum. Barcelona siegte mit 3:0.

Die Schlange vor der Schule in der Barcelonet­a wurde bis in die Abendstund­en nicht kürzer. Immer neue Menschen stellten sich geduldig an. „Was mich am meisten ärgert: Die Europäisch­e Union kehrt uns den Rücken zu“, erklärt Araceli Vinaber, die, obwohl sie ihre Stimme längst abgegeben hat, einfach nicht nach Hause wollte.

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Brutal ging die paramilitä­rische Guardia Civil in Barcelona gegen Katalanen vor, die beim Referendum am Sonntag abstimmen wollten.
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Bereits bei der Öffnung der Wahllokale griffen die von der Zentralreg­ierung entsandte paramilitä­rische Polizeiein­heit Guardia Civil und die Nationalpo­lizei teilweise hart durch.
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