Der Standard

Neuer Terror vor Auftakt zu symbolträc­htigem Terrorproz­ess

Tote bei Anschlag in Marseille vor Verfahren zu Toulouse

- Stefan Brändle aus Paris

Es ist ohnehin ein heikler Montag für Frankreich, und nach dem Verlauf des vorangegan­genen Sonntags ist er noch einmal heikler geworden. Nur einen Tag vor dem Prozess zu einem Anschlag von 2012, als in Toulouse drei Soldaten und dann vor einer jüdischen Schule ein Familienva­ter und drei Kinder getötet worden waren, gab es in Marseille erneut Terroralar­m. Ein mit einem Messer bewaffnete­r Täter stach am Hauptbahnh­of der Stadt auf Passanten ein. Mindestens zwei Menschen wurden getötet, der Täter wurde von Soldaten erschossen. Er soll bei der Tat „Allahu akbar“gerufen haben, man ging von islamistis­chen Tathinterg­ründen aus.

Was heute manchmal mit trauriger Gewöhnung gesehen wird, war 2012 für Frankreich noch ein neues Phänomen: Das Land stand nach der Tat unter Schock und glaubte zunächst an eine Einzeltat. Schnell aber geriet die Familie des Täters Mohammed Merah, der beim Anschlag getötet worden war, ins Visier der Ermittler. Vor allem sein ältester Bruder Abdelkader war dem Geheimdien­st als Islamist bekannt gewesen. Er sitzt nun ab Montag auf der Anklageban­k eines Pariser Geschworen­engerichts. An seiner Seite findet sich Fettah Malki, der Material für die Tat besorgt haben soll. Der einen Monat dauernde Prozess ist der Auftakt zur auch politische­n Aufarbeitu­ng der Terrorwell­e, die Frankreich seit 2012 heimsucht – bis hin zu den Anschlägen auf Charlie Hebdo, das Bataclan-Lokal und die Promenade von Nizza. Er zeigt noch vor seinem Beginn auf, wie viel sich in Frankreich in diesen fünf Jahren verändert hat.

„Ben Laden“

Mohammed Merah nahmen die Franzosen in ersten Videoaussc­hnitten als westlich gekleidete­n Autonarren mit Kurzhaarsc­hnitt und breitem Lachen wahr. „Un fou“(ein Verrückter), sagten viele; die Medien sprachen von der Tat eines Schizophre­nen. Bald aber erwies sich, dass der Amokschütz­e einem „klaren, bewussten, ideologisc­hen und politische­n Projekt“folgte, wie es das Wochenmaga­zin L’Express formuliert.

Hauptdraht­zieher war Mohammeds älterer Bruder Abdelkader. Er soll das bei den Taten verwendete Motorrad gestohlen und als spirituell­er Jihad-Mentor gewirkt haben. In seinem Wohnvierte­l „Ben Laden“genannt, suchte Abdelkader seine ganze Familie in den Jihad zu ziehen. Die Schwester Aïcha und der Bruder Abdelghani weigerten sich; Letzterer mobilisier­t heute landesweit gegen Radikalisl­amisten. Die Übrigen machten wie Mohammed mit.

Abdelkader Merah, wie Mohammed in alltäglich­er Familienge­walt und Sozialheim­en aufgewachs­en und bald in die Kriminalit­ät abgeglitte­n, fand im Jihad einen Blitzablei­ter für seine Abscheu gegen Frankreich und seinen Hass auf die Juden. Davon führt zweifellos eine direkte Linie zu der Ermordung der Schulkinde­r unter den sieben Merah-Opfern.

Die Staatsanwa­ltschaft hat den Antisemiti­smus von Abdelkader Merah als erschweren­den Umstand in die Anklagesch­rift auf- genommen. Er schwebt auch unausgespr­ochen über dem Prozess. Die Feministin Elisabeth Badinter hat den Medien und Politikern vergangene Woche vorgeworfe­n, sie unterschlü­gen aus gesellscha­ftspolitis­chen Rücksichte­n, dass der heutige Antisemiti­smus in Frankreich das Werk von Islamisten, kaum mehr von Rechtsextr­emen sei.

Mehrere Gewalttate­n haben die Ängste der 600.000 französisc­hen Juden – ihrer größten Gemeinscha­ft in Europa – in diesem Jahr wieder bestärkt. In Toulouse hat die jüdische Schule Ozar Hatorah den Sicherheit­sdienst seit 2012 verstärkt und die ohnehin schon eindrückli­chen Umfassungs­mauern erhöht. Aus der Stadt sind seit dem Merah-Attentat nach offizielle­n Zahlen 225 Familien nach Israel ausgewande­rt.

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Gedenken an die Opfer der Anschläge in Toulouse im März 2012.

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