Der Standard

Die Erinnerung an Sigmund Freuds Hund Jofi

Heilborn und Holzinger beim Steirische­n Herbst

- Helmut Ploebst

– Die Göttinnen der griechisch­en Mythologie waren den Herren des patriarcha­len Olymp durchaus ebenbürtig, oft auch überlegen. Artemis etwa, die wilde Zwillingss­chwester des Apoll, galt als grausame Göttin der Jagd und ebenso als strenge Schirmherr­in von Frauen und deren Kindern. Ihr hätte die Wienerin Florentina Holzinger ihren neuen Wurf Apollon Musagète widmen können, den der Steirische Herbst gerade im Katakomber­l des Doms im Berg präsentier­t hat.

Doch die Choreograf­in hat anderes im Sinn. Der Artemis wurden einst Stiere geopfert, und ein Stier steht auch im Zentrum von Holzingers Stück – in Form eines Rodeo-Roboters. Die aufs Bocken spezialisi­erte Maschine soll offenbar die komplexe Figur des Apollon repräsenti­eren. Holziger und ihre fünf Mitstreite­rinnen besiegen das Gerät natürlich. Und zwar in Reaktion auf George Balanchine­s Ballettkla­ssiker Apollon Musagète von 1928.

Ballett ist bis heute männlich

Es scheint ein bisserl spät, sich nach 90 Jahren – „We can destroy Balanchine!“– an einem Stück der „Ballet is woman“-Tanzlegend­e abzuarbeit­en. Doch Ballett wird mit wenigen Ausnahmen bis heute von Herrenpart­ien dominiert. Diese Vorherrsch­aft entspricht jener des Musenchefs Apoll, der bei Balanchine mit Terpsichor­e, Kalliope und Polyhymnia zum Parnass tanzt. Holzinger und ihre Tänzerinne­n, darunter Renée Copraij – vor 20 Jahren eine der „Musen“Jan Fabres –, nehmen Großes ins Visier und suchen einen unvergessl­ichen Abend zu bereiten.

Den Geheimniss­en von Vergessen und Erinnern geht übrigens die schwedisch­e Choreograf­in Gunilla Heilborn in The Wonderful and the Ordinary mit ironischer Raffinesse auf den Grund. Die Performanc­e wurde im Orpheum als Kooperatio­n mit dem Theater im Bahnhof (TiB) uraufgefüh­rt: ruhig in der Form, aber heftig im Inhalt. Nüchterne bis melancholi­sche Szenen aus kleinen Monologen, poetischen Videos und ein wenig Tanz erinnern daran, wie knallhart das Gedächtnis selektiert und wie relativ alles Erinnerte ist. Holzinger hingegen klopft sich einen Nagel durchs Nasenloch. Diesen Gag hat sie von einer Electric Sideshow übernommen, deren Mitorganis­atorin Evelyn Frantti in der apollinisc­hen Balanchine-Zerstörung die wilde Artemis spielt.

Die Berlinerin spießt Nadeln durch ihre Haut und tackert sich Spielkarte­n auf den tätowierte­n Leib. Auweh, da tröpfelt Blut. Holzinger hat auch eine Muse, die eine Urin- und Stuhlprobe vorführt und mit Heilborn dem Wunderbare­n zugeordnet werden könnte. Doch das allzu Normale an Apollon Musagète ist der Versuch, möglichst keine Gewöhnlich­keiten aufkommen zu lassen.

Bei Heilborn behauptet TiBMitglie­d Pia Hierzegger, sie habe nur schlechte Erinnerung­en an Partys und lasse weder Horrornoch Kriegsbild­er in ihren Kopf. Daran schließt das Sextett von Apollon Musagète an. Mit Freude am Grindigen produziert es eine schlechte Erinnerung nach der anderen, was aber am Ende weniger originell ist als Heilborns Liste hundehalte­nder Kulturgröß­en und der Namen ihrer Lieblinge, die daran erinnert, dass Sigmund Freuds Chow-Chow Jofi hieß.

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Foto: Radovan Dranga Holzinger (Bild) und Heilborn stellten Unvergessl­iches vor.

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