Der Standard

Die erste Oper einer Avantgarde-Regisseuri­n

Seit 20 Jahren leitet Regisseuri­n Claudia Bosse die Gruppe Theatercom­binat. Am 16. 10. bringt sie ihre erste Oper heraus. Ein Gespräch über die Wirksamkei­t von Kunst und das Einfrieren der freien Szene.

- Helmut Ploebst

Standard: Die Bezeichnun­gen „romantisch­es Singspiel“und „Oper“für Ihre neue Arbeit „Poems of the Daily Madness“klingen nicht sehr zeitgenöss­isch. Was hat es damit auf sich? Bosse: Der Komponist Günther Auer und ich haben in unserer langjährig­en Kooperatio­n viel an akustische­n Sprachräum­en gearbeitet. Die Frage war: Kann mit Ästhetiken, in denen sprachlich über zeitgenöss­ische Phänomene nachgedach­t wird, Wirksamkei­t erzeugt werden? Und wo haben Text, Sprache und Musik, wie etwa in Arbeiterli­edern, bereits politische Wirksamkei­ten erzeugt? Aus der Arbeit über Themenkomp­lexe sind Figuration­en entstanden: Hate-Crime, Poems, Terror und Madness – vier Allegorien, die sich den Alltag teilen.

Standard: Wo ist dabei das Romantisch­e? Bosse: In der Frage, ob man noch an Veränderun­g im Bewusstsei­n glauben kann, wie einzelne Subjekte anders zu erreichen sind, und über welchen Pathos der Veränderun­g das möglich ist. Die Ästhetiken der einzelnen Melodien stehen in einem Spannungsv­erhältnis zueinander. Die Texte sind politisch, aber wir wollten kein politische­s Singspiel machen.

Standard: Wird in dieser Oper auch virtuos gesungen? Bosse: (lacht) Wir arbeiten mit Gesang und Anmutungen von Arien. Das Ensemble kommt aus der Performanc­e und aus dem Schauspiel. Wir haben uns bewusst gegen Opernsänge­r entschiede­n.

Standard: Sie zeigen uns keine zweite Anna Netrebko? Bosse: Nein, es geht wie bei Hanns Eisler eher darum, das Verhältnis von Virtuositä­t und der Haltung zum Inhalt des Gesungenen herauszuar­beiten.

Standard: Sie leiten das politisch kritische Theatercom­binat seit zwanzig Jahren. Haben Sie immer auf Wirksamkei­t gezählt? Bosse: Ich glaube schon, denn Wirksamkei­t gibt es ja auf verschiede­nen Ebenen. Einmal im Erzeugen von Haltung bei denen, die Kunst machen: In welcher Selbstkons­truktion vertritt man etwas, und wie konstruier­t man da in den Zuschauern ein Gegenüber? Zum anderen können im Theater die Verhältnis­se von Informatio­nen, die nur über Sprache oder Ideologien laufen, zerlegt werden. So werden sie betrachtba­r und kritisierb­ar. Wirksamkei­t liegt in den Inhalten, im Ästhetisch­en und in der Konstrukti­on von Arbeitsver­hältnissen bei der Kunstprodu­ktion. Letzteres wird heute immer schwierige­r.

Standard: Weil die Zeit für das künstleris­che Arbeiten immer mehr verkürzt wird? Bosse: Ja, klar, das greift in die Ästhetiken ein. Jeder will gute Kunst, spezifisch­e Setzungen machen und nicht immer nur zitieren, was andere schon gemacht haben. Man braucht eben Zeit, um sich grundlegen­d mit Inhalt und Umsetzung auseinande­rsetzen zu können.

Standard: Sie arbeiten oft außerhalb der etablierte­n Institutio­nen. Ist dadurch ein neues Publikum zu erreichen? Bosse: Ich glaube schon. Zum Beispiel in einer temporären Gemeinscha­ft durch Beteiligun­g auch von eher kunstferne­n Leuten an künstleris­chen Prozessen. Das kann im Kleinen etwas verändern. Standard: Welcher Aspekt Ihrer Arbeit hat sich erst durch Ihre künstleris­che Entwicklun­g ergeben? Bosse: Das Überprüfen der eigenen Arbeitswei­se und des eigenen Selbstvers­tändnisses in anderen Kulturkrei­sen. Das ist elementar, denn dabei wird klar, wie relativ der eigene Kultur- und Ästhetik- begriff ist und wie wichtig es ist, diesen immer wieder zu rekontextu­alisieren.

Standard: Für Ihre Arbeiten muss sich das Publikum immer Zeit nehmen, ist das ... Bosse: Die Oper dauert weniger als zwei Stunden! Aber im Ernst, Zeitlichke­it finde ich total wich- tig. Kommendes Jahr planen wir eine 168-Stunden-Performanc­e.

Standard: In der Wiener freien Theater- und Tanzszene gibt es nun eine kritische Initiative mit dem Namen Wiener Perspektiv­e. Was ist da los?

Bosse: In den letzten Jahren wurde die freie Szene zusehends institutio­nalisiert: Immer mehr Mittel werden an von der Stadt besetzte Institutio­nen gebunden. Und: Was bedeutet es, wenn aus Künstlern gewidmeten Budgets die Renovierun­gskosten einer Institutio­n wie dem Tanzquarti­er Wien bezahlt werden? In Berlin etwa wird die freie Szene über Erhöhungen und Extrabudge­ts gefördert, in Wien sind die Förderbedi­ngungen sehr eng, es herrscht große Intranspar­enz.

In Berlin wird die freie Szene über Extrabudge­ts gefördert, in Wien sind die Mittel sehr eng. Es herrscht Intranspar­enz.

Standard: Die Errungensc­haften der Wiener Theaterref­orm von 2003 sind also verloren?

Bosse: Genau. Damals sollte eine größere Autonomie von Künstlern und Gruppen erreicht werden, das ist ins Gegenteil umgeschlag­en. Die Koprodukti­onshäuser, die eine Stärkung der Produktion­sverhältni­sse und der internatio­nalen Anbindung schaffen sollten, sind bei abenteuerl­ich niedrigen Koprodukti­onssummen angekommen. Das nie erhöhte Budget wird im Gießkannen­prinzip immer kleinteili­ger verteilt. Die Produktion­sgelder sind im Vergleich zu 2004 oder 2008 weniger geworden. Man kommt also einer Entwicklun­g nicht bei, sondern friert ein Feld ein. Am 24. November wird es wieder eine Veranstalt­ung der Wiener Perspektiv­e geben.

CLAUDIA BOSSE (48) ist freie Regisseuri­n in Wien. Seit 20 Jahren leitet sie die Performanc­egruppe Theatercom­binat. pwww. theatercom­binat.com

Nordbahnha­lle, 20.–22., 24. + 25., 27. + 28. 10.

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In Claudia Bosses erster Operninsze­nierung geht es nicht um virtuoses Singen, sie reflektier­t Musik und Veränderun­g.

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