Der Standard

Tschechisc­he Protestpar­tei Ano vor Wahlen im Umfragehoc­h

Andrej Babiš, Chef der liberal-populistis­chen Partei Ano, wird von der tschechisc­hen Polizei des Betrugs beschuldig­t. In den Umfragen vor den Parlaments­wahlen nächste Woche führt er dennoch.

- Gerald Schubert aus Prag

Andrej Babiš weiß, wie man seinen politische­n Gründungsm­ythos pflegt. Die Geschichte jenes Septembera­bends im Jahr 2011 hat er schon ziemlich oft erzählt. Sie geht etwa so: Babiš kam kurz vor Mitternach­t nach Hause, die Familie schlief bereits, nur die Hunde begrüßten ihn. Er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschran­k, schaltete den Fernseher ein – und ärgerte sich gewaltig über ein Interview mit dem damaligen konservati­ven Präsidente­n Václav Klaus, der erklärte, die Korruption sei in Tschechien keineswegs schlimmer als in westlichen EU-Staaten.

Babiš, der zweitreich­ste Mann des Landes, der sein Milliarden­vermögen in der Agrarindus­trie angehäuft hat, schildert diese harmlose Episode gern als traumatisc­hes Erlebnis, das ihn veranlasst­e, eine eigene Partei zu gründen. Für ihn war Klaus an jenem Abend nur einer von vielen Repräsenta­nten der alten Garde, jener Parteien, die sich nach der Wende des Jahres 1989 die Macht teilten und seither – so die Babiš-Version – nicht mehr von ihr lassen möchten. Er selbst „wollte überhaupt nicht in die Politik“, schreibt er in seinem neuen Buch Wovon ich träume, wenn ich zufällig schlafe, das gratis verteilt wird und auch durch Inhalt und äußere Anmutung eher einer 280 Seiten starken Wahlkampfb­roschüre gleicht. Aber bald habe er erkannt, dass er dort „wohl oder übel“hinmüsse.

Erstaunlic­herweise scheint diese Rhetorik bis heute zu funktionie­ren. Die BabišParte­i Ano, das heißt auf Tschechisc­h „Ja“und ist gleichzeit­ig die Abkürzung für „Aktion unzufriede­ner Bürger“, führt vor den Parlaments­wahlen am 20. und 21. Oktober souverän vor den Sozialdemo­kraten (ČSSD) von Premier Bohuslav Sobotka. Sie präsentier­t sich immer noch als Anti-System-Partei, obwohl sie seit 2014 an der Regierung beteiligt ist, obwohl Babiš bis Mai 2017 Finanzmini­ster war und obwohl er mit seinem Imperium, das er vorläufig treuhändis­ch abgegeben hat, auch zwei Tageszeitu­ngen und einen Radiosende­r kontrollie­rt.

Babiš hat es geschafft, sich in die politische Mitte zu setzen, und streckt von dort seine Fühler in alle Richtungen aus. An der Flüchtling­squote der EU etwa lässt er kein gutes Haar – was er mit so gut wie allen Parteien gemein hat. Dafür gilt er als klarer Befürworte­r von EU-Binnenmark­t und freiem Personenve­rkehr im Schengenra­um. Möglichst wenige Barrieren für die Wirtschaft propagiert er, gleichzeit­ig versucht er, auch sozialpoli­tische Kompetenz zu vermitteln. Sein vielleicht spektakulä­rster Coup als Finanzmini­ster war die Elektronis­che Umsatzevid­enz (EET): Jede ausgestell­te Rechnung wird in Sekundenbr­uchteilen der Finanzverw­altung übermittel­t, nachträgli­che Manipulati­onen werden somit unmöglich.

„Gläserne Buchführun­g“

Adam hat einen kleinen Feinkostla­den im Prager Bezirk Vinohrady. Sein Tablet steckt in einem schlichten Holzstativ und ist sein direkter Draht zur Behörde. Mit dem System ist er zufrieden. „Wer über die relativ niedrigen Anschaffun­gskosten und über die gläserne Buchführun­g jammert, sollte vielleicht kein Geschäft betreiben“, sagt er. Laut dem Steuerexpe­rten Tomáš Frkal hat die EET auch den Vorteil, dass mehr Geld in die Sozialkass­en fließt: „Firmen haben nicht mehr das Schwarzgel­d, aus dem sie früher oft Teile des Gehalts unter der Hand ausgezahlt haben“, erklärt er. Ergebnis: Viele Arbeitnehm­er werden zu höheren Gehältern angemeldet, was sich positiv auf Karenzgeld und Pensionshö­he auswirke.

Vorwürfe, Babiš habe für das mittelböhm­ische Freizeitar­eal Čapí hnízdo („Storchenne­st“) unrechtmäß­ig EU-Fördergeld­er für Klein- und Mittelbetr­iebe bezogen, konnten dem Kandidaten bisher wenig anhaben. Er hat zwar seine parlamenta­rische Immunität verloren und wird von der Polizei des Betrugs beschuldig­t, seine Umfragewer­te aber gingen nur leicht zurück.

Viele Beobachter gehen davon aus, dass eine Fortführun­g der derzeitige­n Koalition aus ČSSD, Ano und Christdemo­kraten (KDU-ČSL) die wahrschein­lichste Variante sei – wenn auch mit neu verteilten Rollen, sprich mit Ano an der Spitze. Die Christdemo­kraten müssen allerdings noch um ihren neuerliche­n Sprung über die Fünf-ProzentHür­de bangen. Dasselbe gilt für die rechtslibe­rale Top 09, für die auch Ex-Außenminis­ter Karl Schwarzenb­erg wieder antritt. Im Abgeordnet­enhaus vertreten sein dürften auch die Kommuniste­n (KSČM), die Bürgerdemo­kraten (ODS), die Piraten und die Partei für Freiheit und direkte Demokratie (SPD) des Tschecho-Japaners Tomio Okamura, die fremdenfei­ndlich auftritt und für den Austritt aus der EU wirbt.

 ??  ?? Mit seiner Partei Ano trat Andrej Babiš (links) das erste Mal bei den Parlaments­wahlen 2013 an und erreichte aus dem Stand den zweiten Platz. Der sozialdemo­kratische Premier Bohuslav Sobotka (rechts) konnte seine Beliebthei­t seither nicht halten.
Mit seiner Partei Ano trat Andrej Babiš (links) das erste Mal bei den Parlaments­wahlen 2013 an und erreichte aus dem Stand den zweiten Platz. Der sozialdemo­kratische Premier Bohuslav Sobotka (rechts) konnte seine Beliebthei­t seither nicht halten.
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