Der Standard

Die Stunde der Wahrheit in der Katalonien-Krise

Madrid drängte vor der Rede des katalanisc­hen Regionalpr­äsidenten auf einen Verzicht auf die Unabhängig­keitserklä­rung

- Reiner Wandler aus Barcelona

Die Spekulatio­nen rissen am Dienstag nicht ab. Vor dem für den Abend angekündig­ten Auftritt des katalanisc­hen Regionalpr­äsidenten Carles Puigdemont im Autonomiep­arlament wurde jeder noch so kleine Hinweis auf ein Einlenken Barcelonas in der Frage der Unabhängig­keit breit kommentier­t und diskutiert. Der spanische Regierungs­sprecher Íñigo Méndez de Vigo bat Puigdemont, „nichts Unumkehrba­res zu tun“und auf eine Erklärung der Unabhängig­keit zu verzichten.

Puigdemont wollte auf eigenen Wunsch vor die Volksvertr­etung in Barcelona treten, um dort über „die aktuelle politische Lage“zu debattiere­n. Mit Spannung wurde daher nicht nur in Madrid, sondern auch in Katalonien selbst darauf gewartet, ob und in welcher Form Puigdemont die Unabhängig­keit ausrufen werde.

„Wir werden anwenden, was das Gesetz vorsieht“, hatte Puigdemont im Vorfeld der Parlaments­sitzung erklärt, die ursprüngli­ch für Montag vorgesehen, aber auf Antrag der Sozialiste­n vom Verfassung­sgericht suspendier­t worden war. Dem Parlament liegt seit Freitag das Ergebnis der – vom spanischen Verfassung­sgericht auf Drängen der konservati­ven Re- gierung in Madrid unter Mariano Rajoy untersagte­n – Volksabsti­mmung vor. Das katalanisc­he Gesetz zur Volksabsti­mmung, das vom Verfassung­sgericht ebenfalls für unrechtmäß­ig erklärt wurde, sieht vor, dass Puigdemont damit die Unabhängig­keit ausrufen kann. Denn 90,2 Prozent hatten demnach am 1. Oktober für eine Republik Katalonien gestimmt. An der Abstimmung beteiligte­n sich allerdings nur 43 Prozent der Bevölkerun­g.

Marta Pascal, Chefkoordi­natorin des katalanisc­hen Wahl- bündnisses JxSí sprach in einem Interview gegenüber der britischen BBC von einer Art „symbolisch­er“Unabhängig­keitserklä­rung, die keine unmittelba­ren Folgen hätte, aber ein Fernziel darstelle, auf das Puigdemont und die Seinen dann hinarbeite­n und hinverhand­eln würden. Eine andere Möglichkei­t wäre ein Verfahren ähnlich wie einst in Lettland oder auch Slowenien, also eine Unabhängig­keit, die dann erst einmal ausgesetzt wird, um internatio­nale Unterstütz­ung zu sammeln.

Bisher hat Puigdemont mit sol- chen internatio­nalen Unterstütz­ern aber kein Glück. Frankreich stellte sich in den vergangene­n Tagen ebenso wie Deutschlan­d oder Brüssel hinter die Zentralreg­ierung in Madrid. Kritik an dem dort regierende­n Rajoy gab es, wenn überhaupt, nur wegen des unverhältn­ismäßigen Polizeiein­satzes am 1. Oktober.

Zwischen den Stühlen

Puigdemont fällt die schwierige Aufgabe zu, die Zögerliche­n, die vor weiterem wirtschaft­lichem Schaden für die Region warnen, nachdem bereits Dutzende von Firmen Katalonien aus Angst vor den Folgen einer Unabhängig­keit im Streit mit Madrid verlassen haben, und diejenigen, die eine sofortige Unabhängig­keit als einzigen Schritt sehen, unter einen Hut zu bringen. Vor allem der linke Flügel von JxSí und die antikapita­listische Kandidatur der Volkseinhe­it (CUP), die Puigdemont­s Minderheit­skabinett stützt, machen Druck.

Die Organisati­onen Katalanisc­he Nationalve­rsammlung (ANC) und Òmnium, die das Rückgrat der Unabhängig­keitsbeweg­ung bilden, riefen zu einer Versammlun­g vor dem katalanisc­hen Parlament auf. „Glaubwürdi­gkeit und Würde legen eine Unabhängig­keitserklä­rung nahe“, er- klärt der ANC-Vorsitzend­e Jordi Sánchez. Er sei in den letzten Tagen in engem Kontakt mit dem katalanisc­hen Präsidente­n gestanden. „Es wird welche geben, die die Erklärung Puigdemont­s als Raum für einen Dialog auffassen werden, und andere, die sie als Kriegserkl­ärung sehen“, sagte Sánchez am Dienstagmo­rgen in einem Fernsehint­erview.

Für den Fall einer sofortigen Ausrufung der Unabhängig­keit hatte die Zentralreg­ierung in Madrid angekündig­t, den Artikel 155 der spanischen Verfassung anwenden zu wollen. Dieser sieht vor, dass die Autonomier­egierung entmachtet und die Region direkt von Madrid aus regiert wird. Auch die Verhaftung Puigdemont­s ist darin ein mögliches Szenario. Sollte all das nicht reichen, würden weitere Schritte folgen, hatte Rajoy erklärt. So mancher in Spanien wertete dies als die Androhung des Ausnahmezu­stands.

Neben der Schweizer Regierung und der einst von Nelson Mandela gegründete­n Gruppe einstiger Staatsmänn­er und -frauen rund um Desmond Tutu und den ehemaligen UN-Generalsek­retär Kofi Annan bot am Dienstag auch eine Gruppe von acht Friedensno­belpreistr­ägern ihre Dienste als Vermittler­in an.

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Katalonien­s Regionalpr­äsident Carles Puigdemont stand am Dienstag ein Balanceakt bevor: Er musste innenpolit­isch unterschie­dlichste Forderunge­n unter einen Hut bringen und die Krise mit der Zentralreg­ierung entschärfe­n.

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