Der Standard

Lolek und Bolek im Reich der Inka

Die kolumbiani­schen Meridian Brothers schließen lateinamer­ikanische Stile mit Comics-Musik kurz

- Christian Schachinge­r

Wien – Lolek und Bolek sind die zwei kugelköpfi­gen Protagonis­ten der von den frühen 1960er-Jahren herauf produziert­en gleichnami­gen polnischen Zeichentri­ckserie. Sie war damals speziell auch in der DDR und in Westdeutsc­hland sehr beliebt. Vergleichb­ar mit den ungleich aufwendige­r produziert­en Filmen der Tim & Struppi- Reihe bereisten die zwei Buben nach diversen harmlosen Abenteuern daheim zwischen 1968 und 1970 schließlic­h die Welt. Sie machten in jeweils zehnminüti­gen Folgen auch im Inkareich, in Mexiko, Argentinie­n und am Orinoko in Venezuela Station.

Musikalisc­h manifestie­rte sich das in den dazugehöri­gen Soundtrack­s insofern, dass neben einer gewissen Putzigkeit zwischen Walt-Disney aus dem östlichen Devisenlad­en Intershop und fröhlicher polnischer Folklore auch weltmusika­lische Motive eingearbei­tet wurden. Diese wurden nicht aus realen Reiseerfah­rungen bezogen. Der Sehnsuchts­ort Südamerika wurde rein aus Klischees und möglicherw­eise aus Konzertbes­uchen bei revolution­är gesinnten lateinamer­ikanischen Ensembles auf brüderlich­em und schwesterl­ichem Kulturaust­ausch in Polen zu Tönen gegossen.

Mit vorsintflu­tlichen elektronis­chen Geräten (auch im Osten entwickelt­e man Synthesize­r als Instrument­e des Fortschrit­ts, sehr gern auch Holzgebläs­e und einem Kessel voller Perkussion­sinstrumen­te) entstand so eine wunderbar lebensfreu­dige, in der sprichwört­lichen Kiste rappelnde, rasselnde, tirilieren­de und nur scheinbar hoppertats­chige Musik, die einem kindlichen Gemüt nach wie vor das Herz aufgehen lässt.

Unmöglich ist gar nichts, aber sehr wahrschein­lich kennt der aus der kolumbiani­schen Hauptstadt Bogotá stammende, ursprüngli­ch aus der Avantgarde­musik kommende Eblis Javier Álvarez Lolek und Bolek gar nicht. Egal, mit seiner 1998 damals als Einmannunt­ernehmen gegründete­n Band Meridian Brothers holt er diese alten, fantastisc­h mit einer imaginiert­en südamerika­nischen Folklore spielenden Kleinode allerdings mehr als souverän „heim“.

Der Komponist und Multiinstr­umentalist schließt dabei im Heimwerker­verfahren auch sehr gern billige Casio-Orgeln (oder Keyboards, die auf billig programmie­rt sind) mit fiepsenden und zischenden, zwitschern­den und quiekenden, jedenfalls dampfbetri­ebenen Synthesize­rn kurz. Antike Eigenbau-Drumcomput­er ver- suchen auch, „westliche“Rhythmen wie Foxtrott oder Walzer mit lateinamer­ikanischen Stilen wie kolumbiani­schen Pasillos, Bambucos oder Cumbias zu crashen.

Nach einer Handvoll auch der US-Easy- und Cheesy-Listening- sowie der Exotika-Szene der 1950erund 1960er-Jahre verpflicht­eten Alben (nennen wir stellvertr­etend den mexikanisc­hen Bandleader Esquivel als Einfluss) agiert Eblis Javier Álvarez seit geraumer Zeit mit Begleitmus­ikern.

Donde estás Maria?, das aktuelle Album, bringt die Musik der Meridian Brothers nun auf eine neue Ebene. Zu allen beschriebe­nen Eigenschaf­ten dieser schrägen Musik gesellt sich nun nicht nur der herrlich zitternde, weiche und melodiöse Gesangssti­l des Chefs. Er setzt in den ungleich zielgerich­teter gewordenen Kompositio­nen nun auch verstärkt ein sehr gern im Pizzicato gespieltes Chello ein, das diese Klangreise in fremde Welten zu einem Erlebnis macht. Con mucho gusto. Meridian Brothers, „Donde estás Maria?“. Soundway Records kündigen, ist ein weiteres Indiz dafür, dass sich die Verhältnis­se offensicht­lich verändert haben. Die Causa Weinstein könnte nun, gerade weil sie so weitreiche­nd ist und so tief in eine historisch gewachsene „Kultur“der Machtdynam­iken führt, kathartisc­he Wirkung haben. Darauf deuten Statements wie jenes der Schauspiel­erin Ashley Judd hin, die selbst von einem Vorfall mit Weinstein in einem Hotel berichtet: „Frauen haben untereinan­der schon lange über Harvey gesprochen. Es war einfach überfällig, diese Gespräche öffentlich zu machen.“

Bessere juristisch­e Instrument­e sind zweifellos nötig, aber das entscheide­nde Stichwort in der ganzen Angelegenh­eit hat Weinstein selbst genannt. Es geht um eine Veränderun­g der Kultur, und das bedeutet für eine Filmbranch­e, die nach wie vor von Männern dominiert wird, dass sie Frauen verstärkt Karrierewe­ge anbietet, die nicht von den traditione­llen Machtdynam­iken geprägt sind.

Ein Mann wie Harvey Weinstein hatte wohl auch lange Zeit keinerlei Unrechtsem­pfinden bei dem, was er tat. Mit einem Schuldeing­eständnis hat er nun reagiert und sich damit moralisch in die Verantwort­ung genommen. Damit fällt er aber schon wieder einen Schritt hinter seine erste Intuition zurück. Es geht auch um Schuld und um Bezichtigu­ng, aber in erster Linie sollte es nun um eine neue Kultur gehen. Das Wort von Ashley Judd von dem „Gespräch“, das Frauen nun öffentlich führen werden, deutet schon einmal in die richtige Richtung.

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Eblis Álvarez (links) und die Meridian Brothers lassen es in der Kiste voller Exotica-Musik ordentlich rappeln.

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