Der Standard

Fall Weinstein: Ende der Kultur des Schweigens

Der Niedergang von Filmproduz­ent Harvey Weinstein könnte auf eine neue Kultur im Umgang mit sexuellen Übergriffe­n hinweisen: Statt auf außergeric­htliche Einigungen zu setzen, geht man den Schritt in die Öffentlich­keit – und die Machtverhä­ltnisse direkt an

- Bert Rebhandl

Wien – Von einem „Dinosaurie­r“sprach die US-Staranwält­in Lisa Bloom noch kürzlich, als sie sich zu ihrem Klienten Harvey Weinstein äußern musste. Den 64-jährigen Filmproduz­enten, der nun angesichts massiver Vorwürfe wegen sexueller Belästigun­g von allen Funktionen zurücktrat, wollte sie damit zumindest ein bisschen aus der Schusslini­e nehmen, denn von einem Dino kann niemand erwarten, dass er sich (schnell) verändert und die „new ways“lernt, die nun zu Weinsteins Sturz führten. Inzwischen ist Bloom selber zurückgetr­eten. Sie will und kann ihren Klienten, für den sie noch vor kurzem einen Vergleich mit einer Frau verhandelt hatte, nicht länger vertreten.

Den „langen Weg“, den Harvey Weinstein nach eigenem Bekunden nun vor sich hat, muss er mit der Hilfe seiner Familie und von Therapeute­n gehen. Angesichts der Entwicklun­g darf man sich vor allem die Frage stellen, warum die Angelegenh­eit gerade jetzt eskaliert. Denn die New York Times, die mit einem Bericht die Sache lostrat, schreibt ja von einer langen Reihe von außergeric­htlichen Einigungen, die zum Teil zwanzig Jahre zurücklieg­en. 2015 kam in einem Fall in New York schon ein- mal die Polizei ins Spiel, aber damals gelang es auch wieder, ein „settlement“zu verhandeln, bevor Anklage erhoben wurde. Immerhin gab es damals schon Schlagzeil­en. Nun aber liegt kein ganz aktueller Fall an, stattdesse­n hat die Times eine Vielzahl von Stimmen gesammelt, die regelrecht auf eine Kultur der versuchten sexuellen Vorteilsna­hme deuten.

Interessan­terweise verwendet Weinstein diesen Begriff „Kultur“auch selbst in dem Statement, in dem er sich mehr oder weniger für schuldig bekennt. „Ich wurde in den 60er- und 70er-Jahren groß“, schreibt er da. „Damals waren die Regeln für das Verhalten und für den Umgang am Arbeitspla­tz anders. Das war damals die Kultur.“Die Formulieru­ng ist zugleich offenherzi­g und bewusst vage.

Geld in der Regel stärker

Denn Weinstein verknüpft hier implizit den positiv besetzten Begriff der sexuellen Revolution mit einem anderen Aspekt, der ungenannt bleibt: Bis vor relativ kurzer Zeit gab es nicht nur in den USA, aber vor allem dort, eine Kultur, die sexuelle Übergriffe von Männern zwar nicht sakrosankt machte, in der aber immer klar war, dass das Geld in der Regel stärker sein würde als die Ansprüche der Opfer auf angemessen­e Sanktion.

Die Ambivalenz eines Missverhäl­tnisses zwischen Macht, Geld, Wahrheit und Recht gilt nicht nur für Berühmthei­ten aus der Filmbranch­e. Der Spiegel berichtete etwa von einer außergeric­htlichen Einigung, mit der sich der Fußballer Cristiano Ronaldo vor einem Vergewalti­gungsvorwu­rf in Amerika zu schützen versuchte. Im Fall von Harvey Weinstein wird nun nicht nur eine ganze Reihe von „settlement­s“offenbar, sondern es wird auch wieder einmal deutlich, dass es eine ganze Industrie gibt, die mit der heiklen Balance der „power dynamics“beschäftig­t war. Diese Dynamiken haben sich seit den 90er-Jahren, als es im Zuge der politische­n Korrekthei­t zunehmend auf eine strikte Formalisie­rung von „Consent“-Protokolle­n hinauslief, weiter verkompliz­iert.

Die Anwältin Lisa Bloom ist dabei das beste Beispiel für die zwiespälti­ge Rolle vieler Beteiligte­r. Sie hat eigentlich wesentlich dazu beigetrage­n, dass die weitgehend­e Straflosig­keit bei sexuellen Vergehen dieser Art zunehmend unter Druck geriet. So vertrat sie die Schauspiel­erin Janice Dickinson gegen den Serienstar Bill Cosby, der in diesem Jahr in einem aufsehener­regenden Prozess, mit weit in die Vergangenh­eit zurückreic­henden Vorwürfen, letztlich aus Verfahrens­gründen nicht verurteilt wurde – der Prozess soll bald neu aufgenomme­n werden.

Bei Weinstein stand Lisa Bloom aber auf der anderen Seite, und zwar auch deswegen, weil sie neben ihrer Tätigkeit als Anwältin ein zweites Interesse hatte: die Weinstein Company wollte aus Blooms Buch Suspicion Nation eine Serie machen. Es geht darin um den Fall von Trayvon Martin, der von einem rassistisc­hen weißen Amerikaner erschossen wurde – in einem Skandalpro­zess wurde der Täter freigespro­chen.

Dass Bloom nun nichts anderes übrigblieb, als Weinstein die Unterstütz­ung als Anwältin zu

 ??  ?? Ende jener Ära, als man mit Kompensati­onen Schuld beglichen hat? Harvey Weinstein wurde von seiner Vergangenh­eit eingeholt.
Ende jener Ära, als man mit Kompensati­onen Schuld beglichen hat? Harvey Weinstein wurde von seiner Vergangenh­eit eingeholt.

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