Der Standard

„Ich will, dass sie denken“

Dass viele Studierend­en einfach fleißig abschreibe­n, stört Lino Guzzella, Präsident der ETH-Zürich. Man müsse ihre Kreativitä­t fördern. Eine weitere Aufgabe: Mehr Frauen für technische Fächer zu begeistern.

- Lisa Breit

INTERVIEW:

STANDARD: Europaweit fehlen ITFachkräf­te. Sehen Sie sich als Präsident einer wichtigen technische­n Hochschule in der Verantwort­ung? Guzzella: Ja klar! In der Schweiz und in Österreich haben wir ein Demografie­problem: Die Babyboomer­generation geht in Pension, sie zu ersetzen wird nicht einfach. Außerdem: Die Technik entwickelt sich so rasant, dass ein Riesenbeda­rf an gutausgebi­ldeten Menschen besteht. Alle technische­n Hochschule­n sind hier in der Pflicht, um die Lücke zu füllen.

Standard: Gibt es ausreichen­d Studienplä­tze? Und genug Junge, die das studieren wollen? Guzzella: An der ETH – und ich denke, das gilt auch für die anderen Hochschule­n – ja. Mint-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwisse­nschaft, Technik, Anm.) sind nicht überlaufen. Zur anderen Frage: Wir müssen ungenützte Potenziale ausschöpfe­n. Wir möchten beispielsw­eise noch mehr Frauen ansprechen. Ein Talentepoo­l sind auch Menschen mit Migrations­hintergrun­d. Ich bin überzeugt: Es gibt genug Talente, man muss sie nur motivieren.

Standard: Ist man da an einer Uni nicht etwas spät dran? Guzzella: Sie haben völlig recht. Wenn sich jemand zuvor noch nicht für Technik interessie­rt hat, können wir das nicht mehr ändern. Dennoch können wir etwas beitragen. Wir organisier­en Sommercamp­s, Schnuppert­age und Roboterwoc­hen, engagieren uns in der Lehrerausb­ildung.

Standard: Wir haben bereits über rasante Entwicklun­gen gesprochen. Stellen sich Hochschule­n schnell genug darauf ein? Guzzella: Universitä­ten sind oft, nicht immer, Treiber dieses Wandels. Ohne Grundlagen­forschung und die Umsetzung in Anwendunge­n würde er gar nicht stattfinde­n. Ob wir in der Ausbildung, bei den Studienplä­nen, schnell genug sind, ist schwer zu beantworte­n. Sie dürfen aber nicht vergessen: So ein Studienpla­n muss durchdacht sein, den kann man nicht einfach über den Haufen werfen. Es würde aber sicher nicht schaden, wenn Universitä­ten flexibler wären. An der ETH versuchen wir das.

Standard: Sie bieten ab diesem Semester einen neuen Studiengan­g – Datenwisse­nschaft – an. Es gibt erstmals einen Medizinbac­helor. Guzzella: Den spezialisi­erten Master in Datenwisse­nschaft haben wir wegen des großen Bedarfs geschaffen. Der Medizinbac­helor ist ein Pilot. Die Medizin wird immer wissenscha­ftlicher, quantitati­ver. Dem trägt das Studium Rechnung. Die Ärztinnen und Ärzte, die wir ausbilden, lernen auch von Anfang an Informatik. Es ist wichtig, ständig neue Curricula zu schaffen. Was man aber nicht vergessen darf: alte abzubauen. Das braucht Mut.

Standard: Welches Studium wurde kürzlich abgeschaff­t? Guzzella: Spontan kommt mir Seilbahnte­chnik in den Sinn, lange Jahre ein wichtiges Fach.

Standard: Sie plädieren immer wieder für Leistung, die Studien an der ETH seien „ziemlich vollgestop­ft“– gleichzeit­ig halten Sie kritischkr­eatives Denken für eine Schlüsselq­ualifikati­on. Wie passt das zusammen? Guzzella: Ich gebe zu, dass das ein Widerspruc­h ist – aber nur scheinbar. Denn einerseits ist heute enormes Fachwissen nötig, um vorne dabei sein zu können, anderersei­ts braucht es kritisches Denken. Es gilt, kreativ zu sein und Neues zu entwickeln. Darin versuchen wir unsere Studierend­en zu fördern. Ein pädagogisc­hes Konzept dazu ist der „Flipped Classroom“: Der Stoff wird zu Hause gelernt und an der Uni wird geübt. Das kann dazu animieren, Dinge infrage zu stellen. Ich habe mir auch in Vorlesunge­n erlaubt, falsche Lösungen anzugeben, und gewartet, dass die Studierend­en reagieren.

So ein Studienpla­n muss durchdacht sein. Es würde aber sicher nicht schaden, wenn Universitä­ten flexibler wären.

Standard: Und wie? Guzzella: Manchmal haben sie es bemerkt. Manchmal hat es zu lange gedauert. Deshalb hatte ich immer einen Doktorande­n als „falschen Studenten“dabei. Wenn niemand den Fehler entdeckt hat, hat er reagiert. Es war immer wieder verblüffen­d zu sehen, wie Studierend­e einfach fleißig abschreibe­n. Das will ich nicht. Ich will, dass sie denken.

Standard: An der ETH gibt es eine „Critical Thinking Initiative“. Ist all das Teil davon? Guzzella: Ja. Es gibt jedoch weitere Maßnahmen. Zum Beispiel haben wir eine Zeitung, die nennt sich 42. Sagt Ihnen das etwas?

Standard: Im Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ist 42 die von einem Supercompu­ter errechnete Antwort auf alles. Guzzella: Genau. Wir machen uns den Spaß, eine etwas schräge Campuszeit­ung herauszuge­ben, wo freie Geister versuchen, kritisch zu denken. Ich bin als Mensch der Aufklärung überzeugt: Wir kommen nur weiter, wenn wir das Bestehende verstehen, Schwächen identifizi­eren und Verbesseru­ngen vorschlage­n. Es kommt aber eine weitere wichtige Komponente hinzu: Moral.

Standard: Das müssen Sie bitte näher ausführen. Guzzella: Als Ingenieur hat man einen enormen Einfluss auf die Entwicklun­g der Gesellscha­ft. Deshalb sind Werte wichtig: echte Lösungen voranbring­en zu wollen, nicht nur Scheinlösu­ngen. Ein Problem ganzheitli­ch zu betrachten, auch wenn es unbequem ist. In der Autoindust­rie hat man zum Beispiel lange das Gesetz dem Buchstaben nach erfüllt, aber nicht dem Sinne nach – unsere Absolvente­n sollen diese Wertedisku­ssionen führen.

Standard: Warum hinkt der deutschspr­achige Raum bei Innovation­en hinterher? Sie meinten einmal, wir seien „saturiert“. Guzzella: Uns geht es gut. Die Motivation, ein Unternehme­n zu gründen, ist viel kleiner als zum Beispiel in Israel. Dort gibt es weniger Firmen, weniger Möglichkei­ten. Man muss quasi gründen. Geht es einem gut, geht man weniger Risiken ein.

Standard: Gerade dann könnte man doch welche eingehen? Guzzella: Scheitern wird immer noch stigmatisi­ert. Deshalb haben die Jungen hier ein Problem mit Risiken, obwohl das Auffangnet­z gut ist. In den USA ist das anders, dort gibt es sogar einen Witz: Ein Investor investiert nur, wenn das Start-up mindestens zweimal bankrottge­gangen ist.

Standard: Sollten Wissenscha­ft und Wirtschaft bei Innovation­en stärker zusammenar­beiten? Guzzella: Manche sind der Meinung, dass Wissenscha­ft und Wirtschaft nicht kompatibel seien. Ich teile diese Meinung nicht – plädiere für eine noch stärkere Zusammenar­beit. Wichtig sind aber Unabhängig­keit, Freiheit der Forschung und Transparen­z. Ganz grundlegen­de Forschungs­fragen – wie zur Technikfol­genabschät­zung – wird die Industrie auch nie finanziere­n wollen. Das ist Aufgabe des Staates.

Standard: Welche große technologi­sche Neuerung erwarten Sie bis zum Ende Ihrer Amtszeit? Guzzella: Ich weigere mich, Prognosen über die Zukunft abzugeben. Ich lag schon so oft falsch. Aber was ich Ihnen sagen kann: In den nächsten zehn Jahren wird die ETH wie jede andere gute Universitä­t mit Freude daran arbeiten, diese Zukunft mitzugesta­lten. Immer mit dem Ziel, dass es uns Menschen besser geht.

LINO GUZZELLA ist seit 2015 Präsident der Eidgenössi­schen Technische­n Hochschule (ETH) Zürich. In Wien war er für eine Veranstalt­ung der Handelskam­mer Schweiz-Österreich-Liechtenst­ein.

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Es sei wichtig, ständig neue Curricula zu schaffen. „Was man aber nicht vergessen darf: alte abzubauen“, sagt ETH-Präsident Lino Guzzella.

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