Der Standard

Grüner Totalabstu­rz, Pilz knapp an der Hürde

Die Grünen erlebten am Wahlsonnta­g ein Desaster: Nach Jahren des Aufwärtstr­ends müssen sie um den Wiedereinz­ug in den Nationalra­t bangen. Ihr früherer Parteikoll­ege Peter Pilz bewegte sich Sonntagabe­nd knapp über der Vier-Prozent-Grenze.

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Es ist für die Grünen eine Niederlage, wie sie noch vor einem halben Jahr niemand vorhergese­hen hätte: Laut dem vorläufige­n Ergebnis verpasste die Liste unter Spitzenkan­didatin Ulrike Lunacek sogar den Wiedereinz­ug in den Nationalra­t. Die Partei musste demnach einen Stimmenver­lust von mehr als acht Prozentpun­kten hinnehmen.

Zittern bis Donnerstag

Zwar ist noch immer nicht fix, wie viele Stimmen den Grünen tatsächlic­h abhandenka­men: Bei dieser Wahl wurden so viele Wahlkarten ausgegeben wie nie zuvor, das endgültige Ergebnis inklusive Briefwahl wird erst am Donnerstag feststehen, und erfahrungs­gemäß schneiden die Grünen bei den Wahlkarten besser ab als an den Urnen. Doch eines stand bereits Sonntagabe­nd fest: Für die Grünen ist dieses Ergebnis ein Desaster.

Entspreche­nd fassungslo­s zeigten sich führende Vertreter der Partei bei der Wahlparty Sonntagabe­nd im Wiener Metropol. Man müsse das Ergebnis „erst verdauen“, sagte Parteichef­in Ingrid Felipe kurz nach der zweiten Hochrechnu­ng, als noch von einem Wiedereinz­ug die Rede war. Klubobmann Albert Steinhause­r reagierte gefasst: „Die Rollen sind klar verteilt“, sagte er kurz nach der ersten Hochrechnu­ng, man werde aber weiterhin „eine starke Opposition“sein, wenn auch mit weniger Abgeordnet­en.

Zwar hatte selbst in der Partei niemand damit gerechnet, dass die Grünen ihren Mandatssta­nd auch nur annähernd halten könnten. Man hoffe auf zehn Prozent der Stimmen, hatte Spitzenkan­didatin Ulrike Lunacek bereits im Sommer verkündet. Eine bemerkensw­erte Ansage, wenn man bedenkt, dass die Partei bei der letzten Wahl 12,4 Prozent der Stimmen erreicht hatte: Eine Liste, die als Wunscherge­bnis ein Minus von zwei Prozentpun­kten angibt – eine solche Liste rechnete bereits lange vor dem Intensivwa­hlkampf mit dem Schlimmste­n.

Und das aus guten Gründen. Für die Ökopartei lief so ziemlich alles schief, was schieflauf­en konnte. Erst verstrickt­e sie sich in einen medial intensiv begleitete­n internen Streit, der im wutschnaub­enden Auszug der Jugendorga­nisation gipfelte. Dann, fünf Monate vor der Wahl, kam der Partei die Chefin abhanden, Eva Glawischni­g zog sich Mitte Mai aus gesundheit­lichen Gründen zurück. Die Grünen zauberten mit Lunacek zwar eine erfahrene und in TV-Auseinande­rsetzungen geübte Spitzenkan­didatin aus dem Hut, doch fehlte es der Europaabge­ordneten aus Wählersich­t an einem klaren Profil. So richtig schwierig wurde es für die Grünen aber erst nach der internen Kür der Wahlkandid­aten. Dass mehrere altgedient­e Parteigran­den nicht mehr auf Fixplätzen waren, machte viele treue Grüne sauer – und trieb sie flugs in die Arme des Listengrün­ders Peter Pilz.

Dieser dürfte es aus dem Stand in den Nationalra­t geschafft haben. Der Altparlame­ntarier, der das Parlament bereits seit 23 Jahren von innen kennt und sich einen Ruf als Korruption­saufdecker gemacht hat, wird laut vorläufige­m Ergebnis mit acht Abgeordnet­en in den Nationalra­t einziehen. Angesichts des vergleichs­weise lächerlich geringen Budgets – die Kampfkassa der Liste war kleiner als eine einzige Großspende der Liste Kurz – ist das ein beachtlich­er Erfolg. Zumal die Liste in kürzester Zeit Personal und Programm finden musste und auch bei den TV-Konfrontat­ionen im öffentlich-rechtliche­n Fernsehen nicht vertreten war. Anwalt Alfred Noll, Dritter auf der Liste Pilz, zeigte sich in einer ersten Reaktion gegenüber dem STANDARD dennoch enttäuscht: „Das ist viel weniger, als wir erwartet haben.“

Fest steht, dass Pilz die Grünen Stimmen gekostet hat – und zwar auf zweierlei Weise. Einerseits fischten der Listengrün­der und die grüne Spitzenkan­didatin Ulrike Lunacek im selben Teich, beide sprachen eher linksliber­ale, urbane, tendenziel­l höher gebildete Wähler an. Anderersei­ts ließ Pilz im Wahlkampf keine Gelegenhei­t aus, den ehemaligen Parteikoll­egen eins auszuwisch­en. Die Grünen, so Pilz, seien zu träge und zu abgehoben, um auf aktuelle Fragen wie Migration und den politische­n Islam angemessen zu reagieren. Viele, die die Grünen in der Vergangenh­eit wohl eher trotz als wegen dieser Positionen gewählt hatten, waren für diese Argumentat­ion leicht zu gewinnen. Peter Pilz war aber nicht der einzige Konkurrent, der den Grünen zusetzte. Der bürgerlich­e Flügel der Grünwähler fand in Sebastian Kurz einen Kandidaten, der alles daran setzte, sich als Erneuerer der ÖVP zu positionie­ren und der konservati­ven Volksparte­i einen jungen, reformorie­ntierten Anstrich zu geben – und dem dies mit einer perfekt durchgetak­teten Kampagne auch gelang.

Für die Grünen endet damit nicht nur eine Ära im Parlament, sondern auch eine lange Aufwärtsph­ase. Seit 1999 haben sie bei Nationalra­tswahlen stetig dazugewonn­en, mit einer Ausnahme 2008, als die Partei unter Alexander Van der Bellen ein leichtes Minus von 0,6 Prozent hinnehmen musste. Damals stand die Liste bei zehn Prozent, unter Eva Glawischni­g ging es weiter bergauf. Nach der letzten Nationalra­tswahl zogen 24 Grüne ins Parlament ein. Nach diesem Urnengang dürfte es wohl kein einziger zu sein.

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Die grüne Frontfrau Ulrike Lunacek wurde von Brüssel nach Wien geholt, um zu retten, was (nicht mehr) zu retten war. Ex-Kollege Peter Pilz dürfte den Einzug schaffen.
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