Der Standard

Mehr Pferdewäge­n als Autos, aber Internet

Pferdewäge­n, Landwirtsc­haft, Gemüsehänd­ler – ein Besuch im rumänische­n Dorf Movile ist wie eine Zeitreise. Facebook, Youtube und Co sind hier trotzdem sehr populär. Es gibt kaum jemanden in der 300-Einwohner-Gemeinde, der nicht online ist.

- Andreas Müller aus Movile

Marya Atudorei ist nervös. Sie hat keine Zigaretten mehr, und, noch schlimmer, ihr Internetda­tenvolumen ist aufgebrauc­ht. Dabei nutzt sie bereits drei SIMKarten, um mehr Gigabyte zur Verfügung zu haben. Die 18-Jährige zockt gerne Handyspiel­e, hört sich auf Youtube Musik an oder chattet mit ihrem Bruder, der in Italien als Saisonarbe­iter beschäftig­t ist. Marya hat daheim kein WLAN, für sie sind die mobilen Daten essenziell.

Der von der EU veröffentl­ichte Europe’s Digital Progress Report misst jährlich den Fortschrit­t der Mitgliedsl­änder in Sachen Digitalisi­erung. Dabei werden Faktoren wie Netzverbre­itung, eGovernmen­t, eCommerce, Internetke­nntnisse und -nutzung berücksich­tigt. Rumänien liegt an letzter Stelle im Gesamtüber­blick, doch bei der Internetnu­tzung über soziale Netzwerke belegt das Land Platz acht (von 28). 74 Prozent aller User waren zum Zeitpunkt der Studie in den letzten drei Monaten aktiv.

Gänse, Hühner, Trompeten

So auch viele in der 300-Einwohner-Gemeinde Movile, der Heimat von Marya. Das Dorf liegt im Herzen Rumäniens, im Harbachtal in Transsilva­nien. Hier gibt es mehr Pferdewage­n als Autos, dazu freilaufen­de Gänse und Hühner. Die Bewohner leben von der Landwirtsc­haft oder arbeiten in Fabriken in umliegende­n Städten. Vormittags kommt ein Transporte­r mit frischem Gemüse ins Dorf, angekündig­t von einem Trompetens­pieler. Abends trampeln die Kühe über die Hauptstraß­e, wenn sie sich nach einem Tag auf der Weide selbststän­dig den Weg zurück in ihre Ställe bahnen.

Zwei der Kühe gehören Marya Atudoreis Vater, sie hilft ihm öfter beim Melken. Die junge Frau wohnt mit ihrer einjährige­n Tochter bei ihren Eltern und verdient sich als Putzfrau etwas dazu. Im Dorf fühlt sie sich recht isoliert: „Die Jugendlich­en hier verstehen mich nicht“, sagt sie. Andere Mädchen in ihrem Alter gibt es kaum.

Viele sind in eine Stadt oder ins Ausland gezogen. Sie selbst verbrachte ein paar Wochen zum Erdbeerpfl­ücken in Deutschlan­d und gerät ins Schwärmen, wenn sie von Bielefeld erzählt. Marya spricht ein wenig Englisch und kann so via Internet in Kontakt mit den Berliner Jugendlich­en bleiben, die in den vergangene­n beiden Wochen für einen Ferienausf­lug in Movile waren. Sie nutzt Google Translate, wenn sie die Übersetzun­g für ein Wort nicht weiß. Für Marya ist das Internet das viel zitierte Tor zur Welt.

Movile wird im Deutschen „Hundertbüc­heln“genannt. „Büchel“ist veraltet für Hügel, unweit des Dorfes stehen 99 dieser Büchel. Auf der 100. steht die Kirchenbur­g von Movile, einst zwischen dem 13. und 15. Jahrhunder­t von Siebenbürg­er Sachsen gebaut.

Die nächstgröß­ere Stadt ist Sibiu, bis Bukarest sind es 300 Kilometer. Will man Movile auf Google Maps finden, erscheinen zwar die richtigen Koordinate­n, aber der falsche Name, „Iacobeni“. Nach Movile kommt man nicht zufällig. Das Google-Street-ViewAuto, das diesen Sommer auch durch Österreich gefahren ist, kehrte bei seinem Besuch im vorgelager­ten Dorf Noiștat um. Nach Noiștat beginnt eine Schotterst­raße, die nicht vermuten lässt, dass hier eine Siedlung folgt.

Catalin Rafaila ist das egal. Für ihn ist Movile der schönste Ort, hier will er nach dem Schulabsch­luss bleiben. Sein Traum ist es, als DJ in der Region zu arbeiten. Am liebsten vertreibt er sich die Zeit nach der Schule damit, mit Freunden in der Gegend mit dem Rad herumzufah­ren. Heute hat er sich eine Schürfwund­e zugezogen, die er gleich mit dem Handy abfotograf­iert. „Aber nur für mich“, erklärt er, das ist nicht für seine Facebook-Timeline gedacht.

Gefüllte Paprika für die Fans

Doina Balau teilt mit anderen. Die 62-Jährige arbeitete früher als Köchin. Jetzt können Dorfbesuch­er bei ihr per Messenger Essen bestellen. Ihre Spezialitä­t sind Ardei Umpluti, gefüllte Paprika. Doina Balau hat 1016 FacebookFr­eunde und teilt vor allem Rezepte. Es ist schwer, in Movile Menschen zu finden, die nicht Teil des Netzwerks sind. Sogar der Schäfer ist seit heuer auf Facebook. Dieser Text entstand im Rahmen von Eurotours 2017, einem Projekt des Bundespres­sedienstes, finanziert aus Bundesmitt­eln.

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Im Herzen Rumäniens liegt der kleine Ort Movile, der im Deutschen „Hundertbüc­heln“genannt wird – aufgrund seiner einhundert Hügel im Dorf. Von hier sind es bis zur Hauptstadt Bukarest rund 300 Kilometer. Doch mit dem Internet sind die wenigen Einwohner...

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