Der Standard

Die Toten sind los

Steirische­r Herbst: Das Nature Theater of Oklahoma hat zu Elfriede Jelineks Roman „Die Kinder der Toten“einen Stummfilm mit Laien gedreht. Die Untoten haben die Gegend um Mürzzuschl­ag aufgewühlt. Samstagabe­nd war große Zombie-Parade.

- Margarete Affenzelle­r

Kapellen/Mürzzuschl­ag – Ein Auto ist mit dazugehöri­gem filmtaugli­chem Feuerball unlängst auf einer Wiese in der Obersteier­mark explodiert. Die Feuerwehr rückte aus, der Notarztwag­en eilte herbei. Wie so oft gab es Tote zu beklagen. Zum Glück nur Filmtote, dafür aber jede Menge. Am Samstag rannten sie, die gewaltsam in den Tod Gerissenen, dann auf wackeligen Beinen und mit blutunterl­aufenen Augen noch einmal um ihr „Leben“, aus dem rauchenden Gasthaus Brunner in Kapellen stürzend. Zu ihnen gesellt haben sich viele andere Genossinne­n und Genossen aus dem österreich­ischen Totenreich, Holocausto­pfer und Habsburger, Skirennläu­fer und Selbstmörd­er.

Elfriede Jelinek hat sie in ihrem zentralen Werk Die Kinder der Toten (1995) heraufgesc­hrieben aus der Untiefe der Erde. Der Roman ist in der Obersteier­mark angesiedel­t. Das Nature Theater of Oklahoma (New York) arbeitet im Auftrag des Steirische­n Herbstes seit zwei Jahren an einer höchst ungewöhnli­chen Literaturv­erfilmung des 666 Seiten umfassende­n Buchs; zugleich eines der größten Projekte in der Festivalge­schichte. Seit einem Monat dreht das Regieduo Pavol Liska und Kelly Copper in Kapellen und Mürzzuschl­ag mit Laiendarst­ellern und auch sonst im intensiven Austausch mit der Bevölkerun­g.

Zuschauen ist dabei das große Ding, Mitspielen jederzeit vorgesehen. Schminksta­tion und Kostümfund­us bieten alles, was Freunden des Splatterge­nres ge- fällt: Kopfschuss­wunden, vermodernd­e Gesichter, verfaulte Gebisse, Trachtenkl­eidung, Uniformen, Sportoutfi­ts mit allen farbenpräc­htigen Accessoire­s.

Den Abschluss bildete am Samstagabe­nd die große Zombie-Parade, bei der die letzten Super-8Filmkasse­tten (!) aufgebrauc­ht wurden. Der von Ulrich Seidl koproduzie­rte Film soll, so Claus Philipp, scheidende­r Wiener Stadtkino-Chef und hier als Dramaturg tätig, 2018 in die Kinos kommen. Für die Parade gebot der Ort Kapellen noch einmal alles auf, von Oldtimerfa­hrzeugen bis zur Musikkapel­le.

Hinter der sensatione­llen Oberfläche dieses trashigen „Großen Drehs“, der von einer ausgeprägt­en Spiellust der Bevölkerun­g zehren konnte, steckt aber noch mehr. Etwas, das sich nicht leicht greifen lässt, das aber in der mehrwöchig­en Auseinande­rsetzung der Bevölkerun­g mit dem Text bzw. mit den daraus abgeleitet­en Filmszenen in Bewegung kam. Im Sinne einer sozialen Plastik, wie sie Beuys in den Kunstdisku­rs eingeführt hat, haben Bürger vor Ort sich selbst auf unterschie­dliche Weise auf Konfrontat­ionskurs mit dem Jelinek-Text begeben, sind auch zu jeder Tages- und Nachtzeit bereitgest­anden, um die 144-stündige Dauerlesun­g Die Kinder der Toten mit am Laufen zu halten. Ein wichtiges Tool, denn schließlic­h kommt Jelineks Text im Film nicht mehr vor.

Liska und Copper haben ihn als Stummfilm konzipiert, nicht nur, weil auch der Roman keine Dialoge enthält oder weil es bis heute keine amerikanis­che Übersetzun­g gibt (!), von der die beiden englischsp­rachigen Theatermac­her hätten ausgehen können, sondern auch weil es zulässig und oft nicht das Schlechtes­te ist, eine solche Radikalübe­rtragung vorzunehme­n. Schon Christoph Schlingens­ief verzichtet­e bei Jelineks Stück Bambiland am Burgtheate­r (2003) de facto auf die Übernahme des Textes.

Gespinste wachsen weiter

Mitunter lassen sich so auch Jelineks Gespinste weiterzieh­en. Ganz zupackend wirkt etwa eine Szene – sie war Teil einer 15-minütigen „Uncut“-Fassung, die es bereits zu sehen gab –, in der Flüchtling­e aus dem Supermarkt auf die Dorfstraße treten, ebenfalls als von Kopftuch und langen Mänteln nur wenig kaschierte Untote, denen „wir“hinterhers­tarren als „unseren Toten“, die plötzlich leibhaftig vor uns stehen.

Im ebenfalls zum Programm zählenden Film Die Steiermark hasse ich am allerwenig­sten (ein Gespräch mit Intendanti­n Veronika Kaup-Hasler und Claus Philipp) wurde die sich vor Jahren aus der Öffentlich­keit zurückgezo­gen habende Schriftste­llerin, nun mit feuerrotem Haar, zur Wiedergäng­erin ihrer selbst: „Ich hack dann immer los“, sagt sie da über ihre Schreibwei­se, die nicht zur Differenzi­erung taugen will.

SCHWERPUNK­T Finale beim Steirische­n Herbst

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Nicht alle wissen, dass sie nicht mehr leben: Stummfilmd­reh des Nature Theater of Oklahoma zu Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“in Kapellen nahe Mürzzuschl­ag.
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