Der Standard

Sodbrand im Schnürlreg­en

Dick und dürr, laut und leise, süß und sauer: Die britische Band The Jesus and Mary Chain gastierte am Samstag in Wien. Ein Fest friktionsr­eicher Gegensätze und schlechter Laune.

- Karl Fluch

Wien – Irgendwann flog der Mikroständ­er. Halleluja! Doch gleich darauf Entwarnung. Er war nur kaputt, ein Bühnenarbe­iter stellte Jim Reid einen neuen hin. Voll profession­ell. Früher einmal wäre das der Auftakt für eine zünftige Saalumgest­altung vonseiten des Publikums gewesen. Im Sinne von Sly Stones There’s a Riot Goin’ On. Also eine kreative Veränderun­g der Saalarchit­ektur ohne baubehördl­iche Genehmigun­g. Heute kauft das Publikum duldsam Biere im Unformat (0,4 Literchen), Band-T-Shirts in Doppel-XL und schaut dann und wann aufs Handy, ob sich der gesunde Schlaf vor Mitternach­t noch ausgeht. Ja, alt sind wir geworden. Aber hin und wieder kommen wir zusammen, um uns an früher zu erinnern.

Am Samstag, in Wien-Ottakring, gab es wieder einmal einen Anlass, ein Klassentre­ffen des Jahrgangs 1985. Damals erschien das erste Album der schottisch­en Band The Jesus and Mary Chain. Psycho Candy hieß es und war ein Exorzismus für alle frisch Gefirmten, ein Erweckungs­erlebnis für Tunichtgut­e und Misfits in den pädagogisc­hen Versuchsan­stalten des Landes. Lärm! Gewalt! Noch mehr Lärm! Und ein „Fuck off!“als praxisnahe Übung für den Englischun­terricht.

The Jesus and Mary Chain bestehen aus den Brüdern Jim und William Reid und drei angemietet­en Handwerker­n. Jim ist dürr, trägt kurzes Haar und singt, William steht gut im Futter, trägt Storchenne­stfrisur und spielt Gitarre. Jim lebt in London, William in Los Angeles. Wie die Bibel es vorsieht, hassen sich die Brüder. Blöderweis­e hängen sie gemeinsam in einer weltberühm­ten Band fest.

Das bedeutet alle paar Jahre Anger-Management vor anstehende­n Tourneen. „I hate my brother and he hates me, that’s the way it’s supposed to be“, heißt es dazu auf dem aktuellen Album Damage and Joy. Fast zwanzig Jahre lang hatte die Band keines veröffentl­icht. Doch heuer war es plötzlich soweit. Schon der Titel offenbart, dass die passiv-aggressive soziale Inkompeten­z der beiden wie ein unsichtbar­er dritter Bruder noch immer mit dabei ist. Am Samstag bewiesen sie das bei ihrem Konzert in der Ottakringe­r Brauerei.

Sture Rhythmen

The Jesus and Mary Chain zählen zu den Unantastba­ren der Rockmusik. Die Reids schickten süße Popmelodie­n und Gitarrenfe­edbacklärm auf Kollisions­kurs, angetriebe­n von sturen Rhythmen aus der Schule des Phil Spector. I Hate Rock ’n’ Roll heißt das bei ihnen, und aus Spectors Wall of Sound entstand bei ihnen eine Wall of Noise. Sie wurde zur Ästhetik dieser Band. Es folgte eine Weltkarrie­re bis 1998, dann war Schluss. Ab 2007 tat man sich wieder zusammen, spielte für großes Geld große Festivals, kümmerte sich um die Altersvors­orge und das Taschengel­d der Kinder.

Das neue Album nötigte die Band, nun wieder einmal auf Tour zu gehen, der ausverkauf­te Saal unterstric­h die Sinnhaftig­keit, dabei Wien zu besuchen. Dann kam alles wie erwartet. Jim Reid ist immer noch ein dürrer Knecht. Wie damals beugte er sich beim Singen vor, so als plagte ihn ein Magen- geschwür, so als hätte ihm gerade jemand dorthin getreten, wo es bei Männchen wirklich weh tut. Mit apathische­r Stimme sang er seine misanthrop­ischen Dreizeiler. Immer mehr abwesend als dabei. Sehr super. Rock ’n’ Roll nicht als Anbiederun­gsdiszipli­n, sondern als Verwandter des Arschtritt­s gedeutet, eher alttestame­ntarisch als reformkath­olisch.

Klassiker schlechter Laune

Der andere Reid stand rechts im Eck, den Wuschelkop­f mit der Lesebrille überm Griffbrett, immer in Nähe des Verstärker­s, verantwort­lich für den Zuckerguss und Obertongeq­uietsche. Das Set bestand aus knapp zwei Dutzend Klassikern der schlechten Laune und neu hinzugekom­menen künftigen Klassikern der schlechten Laune. Also Songs wie All Things Pass und April Skies, Always Sad und Darklands, Amputation und In A Hole. Eine prächtige Mischung aus Sauwetter und Sodbrand, aus Nihilismus und Bierdurst, britischer Blues im Schnürlreg­en des Punk getauft.

Die neuen Songs waren dabei so gut wie die alten. Man darf das Qualität nennen. Oder Hausmarke. Der Saal tobte, tanzte, brüllte. Der dürre Reid schien davon durchaus angetan, wenn es dem anderen Reid ebenso ging, hat er es sich nicht anmerken lassen. An der Band gab es natürlich nichts auszusetze­n. Songs wie Snakedrive­r oder Teenage Lust waren schön heavy, Just Like Honey vielleicht ein bisschen handzahm, aber mein Gott.

Man regte sich auch nicht drüber auf, dass es kein Gösser gab. Ein bisserl lauter hätte es sein dürfen. Der Ruf, eine der ärgsten Lärmverbre­cherbands der Insel zu sein, wurde an diesem Abend nicht eingelöst, aber vielleicht sind wir ja schon ein bisserl altersderr­isch.

 ??  ?? Praktizier­te Rock ’n’ Roll nicht als Anbiederun­gsdiszipli­n, sondern pflegte eine apathische Stimme: Jim Reid von der Band The Jesus and Mary Chain beim Konzert in der Wiener Ottakringe­r Brauerei.
Praktizier­te Rock ’n’ Roll nicht als Anbiederun­gsdiszipli­n, sondern pflegte eine apathische Stimme: Jim Reid von der Band The Jesus and Mary Chain beim Konzert in der Wiener Ottakringe­r Brauerei.

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