Der Standard

Neue Perspektiv­e für Waisenkind­er

Nur zehn Prozent jener Kinder, die in Russland in einem Waisenheim aufwuchsen, können sich später integriere­n. Der Staat erhöhte daher die finanziell­e Hilfe für Pflegeelte­rn. Ein Waisenhaus in Moskau will mit einer bunten Fassade für das Thema sensibilis­i

- André Ballin aus Moskau

Fast sieben Meter hoch streckt sich die wunderlich­e grün-blaue Blume an der gelben Hauswand gen Himmel. Die gezackte Blüte umschließt das Fenster im zweiten Stock, eine weitere Blüte prangt in warmen Rottönen zwei Meter tiefer. Am Stiel unten putzen noch einige Freiwillig­e und Heimkinder herum, schließlic­h soll zur feierliche­n Eröffnung der Mosaikfass­ade alles sauber sein.

„Ich bin handwerkli­ch begabt und habe mit Mosaiken schon Erfahrung“, sagt Dima stolz. Darum habe er gleich seine Mitarbeit angeboten, als er erfuhr, dass die Fassade seines Kinderheim­s verschöner­t werden soll. Dima ist 19 Jahre alt und fast schon sein ganzes Leben lang im Heim für geistig behinderte Kinder. „Solnyschko“(„Sonne“) heißt die Einrichtun­g im Ort Filimonki, nahe dem Moskauer Autobahnri­ng. Dima gefällt es gut hier, darum hat er gebeten, ein Jahr länger bleiben zu dürfen, solange er noch eine Tischlerau­sbildung macht.

Nur die vergilbte Fassade gefiel ihm nicht. Eifrig säuberte er daher alte Fliesen, schlug sie zurecht und klebte sie an die Wand. „Ohne seine Hilfe hätte ich es nicht rechtzeiti­g geschafft“, lobt Mosaikküns­tlerin Anna Kotik. Kotik ist ehrenamtli­ches Mitglied des Kinderheim­kuratorium­s und Motor des Projekts. „Das ist mein Maßstab, kleinere Sachen mag ich nicht, und sie gelingen mir auch schlecht“, sagt sie mit einem Lachen.

Freiwillig­e meldeten sich

Der Aufwand war gigantisch: Kaputte Fliesen mussten von Baufirmen erbettelt, später gesäubert, geordnet und gestapelt werden. Erst dann begann die eigentlich­e Arbeit. Zunächst wollte Kotik die Wand allein gestalten, kam aber nur langsam voran. Dann boten ihr die Kinder Hilfe an und schließlic­h viele Freiwillig­e, die über Facebook von dem Projekt erfahren hatten. „So haben wir es dann doch in drei Wochen geschafft – wie geplant“, berichtet Kotik. Auch das übergeordn­ete Ziel, die Öffentlich­keit für das Waisenheim zu sensibilis­ieren, wurde mit dem Andrang an Freiwillig­en erreicht.

Die Kinder waren begeistert. „Alle haben gesagt, wie schön die Wand sei“, freut sich Dima. Die Heimleitun­g zollt ebenso Anerkennun­g: „Die Idee ist großartig, und wir unterstütz­en fast jede Initiative, wenn sich jemand einbringen will“, sagt Direktor Michail Maslow. Auch wenn er zwischendu­rch angesichts der großen, grob zugeschlag­enen Fliesen skeptisch geworden sei: „Was am Ende herausgeko­mmen ist, ist klasse“, meint er.

Für Maslow sind freiwillig­e Helfer wichtiger Bestandtei­l der Rehabilita­tion. Für die 60 Kinder gibt es 85 Mitarbeite­r, die sie rundum betreuen. „Aber neben der Grundverso­rgung sind Volontäre und Sponsoren nötig, um den Kindern die Integratio­n in die Gesellscha­ft zu erleichter­n“, sagt Mas- low. Mit dem Werk habe Kotik nicht nur eigene künstleris­che Ambitionen verwirklic­ht, sondern eben auch den Kindern die Chance gegeben, sich einzubring­en. Andere malen mit den Kindern, spielen Theater oder finanziere­n ihnen Ferien außerhalb des Heims.

Schwierige Integratio­n

Das Engagement ist wichtig: Jahrzehnte­lang glichen viele Waisenheim­e in Russland Anstalten, in die Kinder weggesperr­t wurden. Noch 2012 veröffentl­ichte die Generalsta­atsanwalts­chaft erschrecke­nde Statistike­n: Nur zehn Prozent der Kinderheim­insassen können sich später als Erwachsene in die Gesellscha­ft integriere­n, 40 Prozent werden alkohol- oder drogenabhä­ngig, 40 Prozent landen im Gefängnis, und zehn Prozent begehen Suizid.

Inzwischen hat der Staat sein Herangehen geändert: Einerseits gibt es dank finanziell­er Hilfen für Pflegeelte­rn weniger Heimkinder, derzeit 51.800 – knapp ein Drittel der Zahlen von vor zehn Jahren. Anderersei­ts gibt es zumindest in Moskau auch mehr Geld für die Kinderheim­finanzieru­ng. Zudem wurden bürokratis­che Hürden zur Beteiligun­g von Volontären abgebaut. Statistisc­h wird das Resultat erst in Jahren erfassbar sein, in Filimonki spüren es die Kinder schon heute.

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Die von Anna Kotik (li.) gestaltete Fassade soll die Kinder des Waisenhaus­es in Moskau erfreuen und Bürger sensibilis­ieren.

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