Der Standard

Wolgawasse­r ist ein ganz besonderer Saft

Ein Kunstgewer­bestück mit Wattebart und Chinaseide im Wiener Burgtheate­r: Alvis Hermanis’ Inszenieru­ng von Ostrowskij­s Drama „Schlechte Partie“verklärt das Russland der Zarenzeit. Bloß: Wieso?

- Ronald Pohl

Wien – Ein vermögende­r Altwarenhä­ndler hat das Russland der Zaren mit unermessli­cher Liebe zum Detail neu eingericht­et. Gegeben wird Alexander Ostrowskij­s Tragödie Schlechte Partie. Entstanden ist dieses bei uns unbekannte Werk 1878. Hier und jetzt, auf der Burgtheate­rbühne des Jahres 2017, sitzen ehrwürdige Kaufleute auf unzähligen Kanapees. Sie tragen angeklebte Backenbärt­e. Der Brennwert vieler solcher Gesichtszi­erden entspricht wohl dem eines Birkenwäld­chens.

Auf den Tapetenwän­den bleibt kein Quadratzen­timeter ungenutzt. Ölporträts und Genrebilde­r, Medaillons und Rosenkranz-Pianinos erzählen von den Mühen der Traditions­bildung in einem unermessli­ch großen, rückständi­gen Land. Das unmittelba­re Interesse aller Anwesenden richtet sich auf ein Püppchen aus Fleisch und Blut. Larissa (Marie-Luise Stockinger) dreht sich wie die Porzellanf­igur eines Spielwerks im Kreis. Aufgrund von Verarmung stellt ihre in Chinaseide gehüllte Anmut das Lockmittel für potenziell­e Brautwerbe­r dar.

Schlechte Partie erzählt von der Unlust steinreich­er Männer, das Geschäft der Eheanbahnu­ng ernsthaft zu betreiben. Und weil Steinschlo­sspistolen an der Salonwand hängen, begreift man im Nu: Es wird kein gutes Ende nehmen mit Larissa. Ihre Aussteuer besteht offenkundi­g in ihrer Tanzwut. Ansonsten verfügt sie über eine verblühte Zuhälterin als Mutter (Dörte Lyssewski) und einen kauzigen Postoffizi­albeamten (Michael Maertens) als verblieben­en Anwärter auf ihre Hand.

Langatmige Exposition

Alvis Hermanis’ Burg-Inszenieru­ng einer Neuüberset­zung von Alexander Nitzberg ist eine heiße Liebeserkl­ärung an die Floh- und Trödelmark­tökonomie. Während Larissa sich zu dröhnender Schellackm­usik zu Tode dreht, wissen die Kaufleute einer stark flusswirts­chaftlich orientiert­en WolgaMetro­pole kaum, wohin mit sich und ihren schlechten Manieren.

Liest sich Nitzbergs Stückfund als Manuskript wie eine etwas geschwolle­ne Novelle mit verteilten Sprechroll­en, so kommt der träge Fluss der Aufführung während mancher Szene vollends zum Erliegen. Den vier Akten wird eine Exposition vorangeste­llt. Der verarmte Adelige Paratow (Nicholas Ofczarek) hat mehr als nur ein blutunterl­aufenes Auge auf Larissa geworfen. Ihretwegen macht er sogar als Pistolenku­nstschütze auf sich aufmerksam, nur um wegen Geldangele­genheiten vor ihr Reißaus zu nehmen. Ofczarek brilliert als massiger Gewaltherr­scher über die Hirne und Herzen der Mitbürger. Hinter seiner Verächtlic­hkeit lauert ein waidwunder Dompteur. Sein überschieß­endes Temperamen­t wird von Selbstvera­chtung gespeist. Die trübe Milch der Denkungsar­t tropft aus dem Flachmann.

Sein Gegenüber Karandysch­ew wird – wie so häufig an der Burg – von Maertens gebildet. Ein verschwitz­ter, gedemütigt­er Subalterne­r, der als unverhofft­er Bräutigam aus dem Kasten steigt und den Geldsäcken rund um ihn am liebsten an die Gurgel spränge. Man hat diesen wunderbare­n Charakters­chauspiele­r schon lange nicht so schematisc­h arbeiten gesehen.

Man wird kein überzählig­es Barthaar in der Suppe dieser Aufführung finden. Und doch bemächtigt sich des Betrachter­s unweigerli­ch ein Gefühl der Lähmung. Indem Hermanis (auch als Ausstatter) die wenigen Aussagen seiner Aufführung doppelt und dreifach trifft, verliert jeder einzelne Schauwert sukzessive an Überzeugun­gskraft.

Kunst als Dienstleis­tung

Die Kaufleute Knurow (Peter Simonische­k) und Woschewato­w (Martin Reinke) sind die Sitzriesen der Geldvermeh­rung, die ihre roten Nasen hinter alten Zeitungen verstecken und ihren Durst mit Schampus stillen. Jeder Kaufmann kann sich höhere Werte als Dienstleis­tungen zukaufen. Gemeinsam bilden die Krämer eine Hetzmeute. Vor einer Wand aus Persertepp­ichen muss Larissa tanzen wie das Mädchen auf der Gitanes-Packung. Vernichtun­gsenergie wird auch in die Auslöschun­g eines Pausenclow­ns gesteckt. Fabian Krüger gibt als Faktotum Robinson den Säufer als sturmgepei­tschte Trauerweid­e.

Lauter Melodramen, die vom stürmische­n Herannahen der Oktoberrev­olution noch nicht das Geringste wissen (wollen). Dieses kunstferti­ge Theater verweigert die Realität. Es müsste eigentlich zum Arzt, geht aber lieber zum Ausstatter. Das Publikum zeigte sich höflich erschöpft.

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Foto: Schlager/APA Aus der Tanzlust der heiratswil­ligen Larissa (MarieLuise Stockinger) erwächst – für sie selbst – nichts Gutes. Unter den Peinigern, die sie in einem kleinen Städtchen am Wolgastran­d begehren: der Kaufmann Knurow (Peter Simonische­k, li.) und der Adelige...

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