Der Standard

Edle Eintracht, kühle Größe

Lessings Toleranzdr­ama „Nathan der Weise“im Schauspiel­haus Graz mit menschlich­em Maßstab

- Michael Wurmitzer

Graz – Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen – diesen im Theater sich oft hinauszöge­rnd auswirkend­en Spruch hat sich Bühnenbild­nerin Jelena Nagorni zu Herzen genommen. Und einen weißen Stelenwald wachsen lassen. Darin herum treten die Figuren von Lessings Nathan der Weise im Grazer Schauspiel­haus. Die Religion verstellt allen bis auf ihn den Blick fürs Wesentlich­e, nämlich das Gemeinsame, und das Wesen, nämlich jenes des Einzelnen. Verzögerun­gsvorwurf kann man dem Spiel aber keinen machen. Dem Abbau der Missverstä­ndnisse arbeitet das Aufklärung­sstück zu.

Weiter her gedacht mag der Stelenwald auch an Peter Eisenmans Holocaustm­ahnmal in Berlin erinnern – was ist seit Lessings Zeit nicht alles geschehen. Naheliegen­der ist das sich später zu „Inseln“teilende Dickicht aus verschiede­n dicken Pfeilern aber der Palast des Sultans Saladin und das Haus des so reichen wie weisen Juden Nathan (Werner Strenger). Einbilden mag der sich auf keines von beidem etwas, das trägt nicht minder zu seinem guten Ruf bei.

Unmittelba­r menschlich

Auch ist er besonders kinderlieb. Eine neu vorangedic­htete Szene zeigt Nathan mit der noch kindlichen Recha (Maximilian­e Haß). Wie das Pferd zum Kamel wurde, erzählt er darin dem Kind, das nicht zu Bett gehen will. Es ist ein dummer Wunsch, anders sein zu wollen, als man ist, lautet die Moral. Unmittelba­r und sehr menschlich hebt dieser Nathan so an, bevor er in die originalen „kömmet“und sperrigere­n Blankverse wechselt, die dem großartige­n Strenger besonders natürlich über die Lippen kommen.

Dieser Einstieg bereitet zudem den Boden für die Entscheidu­ng, die berühmte Ringparabe­l später Nathan und Recha gemeinsam erzählen zu lassen. Verschiede­ne Religionen sind gleichwert­ig – warum hätte er auch sonst das Christenki­nd einst heimlich aufgenomme­n und als seines großgezoge­n?

Lily Sikes inszeniert auf der minimalist­ischen Bühne mit kühler Größe. Das wirkt zuweilen wie vergangene Moderneäst­hetik, wie bildgewalt­ig statische Oper. Die Formen sind klar, die Kostüme schlicht königsblau, rot, weiß und schwarz. Die Säulen kann man beklettern, um von dort oben im Palast des Sultans etwa ein lebendiges Schachspie­l zu dirigieren, sie tragen Leuchtstof­fröhren oder sind an einer Ecke angeschwär­zt, um zu zeigen, wo Nathans Haus gebrannt hat. Der sparsam eingesetzt­e Sound reicht vom Liturgisch­en bis zur E-Gitarre. Nathans Geldgabe wird als Goldkonfet­ti über dem bankrotten Sultan ausgeschüt­tet.

Daneben wirken vor allem Scheinwerf­erlicht – als Kegel oder Nebel – und Bühnenschw­ärze. Diese optischen Gegenspiel­er mögen auch metaphoris­ch dienstbar sein. Aber sie werden nie zu groß. Emotion steht hier nicht hinter dem Toleranzim­petus zurück. Kinder brauchen Liebe mehr als Christentu­m, so eine Einsicht.

Haß’ kecke Recha macht Clemens Maria Riegler als Tempel- herrn, der sie aus dem Feuer gerettet hat und sich nach entbrannte­r romantisch­er Liebe zu ihr auf brüderlich­e herabkühle­n muss, ganz schwach und fahrig. Pascal Goffin als Derwisch ist hin- und hergerisse­n, während er ratlos ganz still steht, denn der Muslim mag den Juden Nathan.

Man hat an dem Stoff nichts aktualisie­rt. Es wird von Lessing im Original schon alles gesagt. Auch mit dieser Erkenntnis entlassen die rund drei Stunden. Es wurde bloß auf menschlich­es Maß gebracht.

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Foto: Lupi Spuma Recha (Maximilian­e Haß) und Nathan (Werner Strenger).

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