Der Standard

Türkisches Justizkaru­ssell dreht sich schneller

Angeklagte Bürgerrech­tler und Journalist­en geben sich diese Woche im Gerichtssa­al die Klinke in die Hand

- Markus Bernath

Istanbul/Athen – Leute, die mit Leuten gesprochen haben sollen, die eine Mobiltelef­onanwendun­g benutzt haben sollen, die wiederum für das Netzwerk des türkischen Predigers Fethullah Gülen geschriebe­n worden sein soll. Ein Entwurf für ein Anschreibe­n an eine Botschaft zur finanziell­en Unterstütz­ung eines Projekts zur Förderung der Gleichbere­chtigung von Frauen in der Türkei. Der Screenshot einer angeblich geplanten Kampagne für ein angebliche­s Mitglied der verbotenen kurdischen Untergrund­bewegung PKK: Der Prozess, der am Mittwoch vor einer Strafkamme­r in Istanbul gegen elf Menschenre­chtler beginnt, steht auf so wackligen Beinen, dass die Anwälte der Angeklagte­n gleich die Nichteröff­nung eines Hauptverfa­hrens und die Freilassun­g ihrer Mandanten beantragen wollen.

Das wird nicht einfach sein, denn die Vorverurte­ilung ist schon ausgesproc­hen. „Agenten“ hatte der türkische Staatschef Tayyip Erdogan die Teilnehmer eines Workshops auf der Istanbuler Prinzenins­el Büyükada genannt. Seit mehr als 100 Tagen sitzen Idil Eser, die Türkei-Direktorin von Amnesty Internatio­nal (AI), der schwedisch-iranische Menschenre­chtler Ali Gharavi oder sein deutscher Kollege Peter Steudtner deshalb in Untersuchu­ngshaft. Unterstütz­ung oder gar Mitgliedsc­haft in einer bewaffnete­n terroristi­schen Organisati­on werden ihnen vorgeworfe­n. Nur 17 Seiten lang ist die Anklagesch­rift der Staatsanwa­ltschaft.

Bei Steudtner, der bei dem Workshop in einem Hotel auf der Insel einen Vortrag hielt, fanden die türkischen Polizisten eine externe Festplatte mit Dateien zum Thema Datensiche­rheit. Das hat schon gereicht. Nach seiner Verhaftung im Juni änderte die deutsche Regierung ihre Türkeipoli­tik.

Gehackte Minister-E-Mails

Der Amnesty-Prozess im großen Istanbuler Justizpala­st Caglayan ist diese Woche nicht das einzige Verfahren, bei dem regierungs­kritisch eingestell­te Personen vor den Richter kommen. Den Reigen eröffnen heute, Dienstag, drei Journalist­en, die sich wegen Berichten über die gehackten EMails von Erdogans Schwiegers­ohn, Energiemin­ister Berat Albayrak, verantwort­en müssen.

In einem anderen Gerichtssa­al werden 13 Journalist­en vorgeführt, die der Propaganda für den Prediger Fethullah Gülen angeklagt sind, darunter der Kolumnist und Sänger Atilla Taş. Am Donnerstag geht es mit ebenfalls 13 Journalist­en und Publiziste­n weiter, die sich an der symbolisch­en, eintägigen Leitung der Redaktion der Tageszeitu­ng Özgür Gündem beteiligt hatten. Die Zeitung ist bereits geschlosse­n worden, das Verfahren beginnt nächste Woche.

Aus der U-Haft kam am vergangene­n Freitag der Grundschul­lehrer Semih Özakça. Er protestier­t seit nun 226 Tagen mit einem Hungerstre­ik gegen seine Entlassung aus dem Staatsdien­st, ebenso wie die Dozentin Nuriye Gülmen. Sie war zu schwach, um bei der Verhandlun­g zu erscheinen, und wurde vom Richter in der Haft gelassen. Nach der Verhaftung des Philanthro­pen Osman Kavala und des Leiters des AKP-nahen Thinktanks Orsam, Şaban Kardaş, wird nun ein größerer Schlag gegen die Zivilgesel­lschaft erwartet.

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Foto: AP / Amnesty Internatio­nal Turkey 100 Tage Einzelhaft: die TürkeiDire­ktorin von AI, Idil Eser.

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