Der Standard

Die erdrosselt­e nörgelnde Mutter

Mordprozes­s gegen 53-Jährigen wegen Tods der „Mama“

- Michael Möseneder

Wien – Als die psychiatri­sche Sachverstä­ndige dem Geschworen­engericht das Verhältnis zwischen Vijay S. und seiner Mutter beschreibt, spricht sie von einer „destruktiv­en Symbiose“und einem möglichen „belastungs­reaktiven Durchbruch“. Was sie meint: Die 80-Jährige könnte ihrem 53 Jahre alten Sohn so auf die Nerven gegangen sein, dass er sie am 23. Februar aus Zorn erdrosselt­e.

Vorsitzend­en Andreas Böhm interessie­rt im Mordprozes­s gegen den Unbescholt­enen daher die Vorgeschic­hte. Vor 33 Jahren kam S. aus Indien, baute sich hier eine Existenz auf, erwarb die Staatsbürg­erschaft. Es folgte die Hochzeit in Indien, 1994 kam die Frau mit dem kleinen Sohn nach, 2005 eine Tochter zur Welt. „Wir haben auch Hilfe gebraucht für die Tochter und damit meine Frau wieder arbeiten gehen kann“, nennt der Angeklagte zwei der Gründe, warum er 2005 auch seine Mutter aus Indien holte und die in die Familienwo­hnung zog.

Es lief nicht harmonisch. Im Gegenteil: Der Enkel des Opfers, ein Student, schildert als Zeuge, dass seiner Großmutter die Integratio­n „sehr, sehr schwergefa­llen“sei. Mit der Schwiegert­ochter habe sie sich nicht gut verstanden, den Angeklagte­n immer wieder kritisiert. „Ein Beispiel: In Indien ist es üblich, dass der Sohn der Mutter ein Haus baut. Das ist hier natürlich nicht möglich, aber sie hat sich immer wieder darüber beschwert“, schildert der Zeuge. Der Angeklagte bemüht sich dagegen, nichts über seine „Mama“, wie er sie konsequent nennt, kommen zu lassen. „Es hat nie Probleme gegeben“, behauptet er, erst auf Nachbohren berichtet er doch von gelegentli­chen Streiterei­en.

Ab 2014 war er wegen Depression­en in Behandlung, im August 2016 kam es zur Scheidung. Es dauert bis Februar, bis der Angeklagte eine kleine Wohnung für sich und seine Mutter bekam. Am Tattag zeigte er ihr sie erstmals. Bei der Polizei und dem Haftrichte­r hat er stets recht stringent geschilder­t, was passiert sei: Sie habe herumgenör­gelt, ihm sei der Kragen geplatzt, und er habe sie mit ihrem Halstuch strangulie­rt, ehe er sich selbst mit einem Küchenmess­er töten wollte.

Nun erzählt er plötzlich, sie habe ihn zuerst mit dem Messer verletzt. Nachdem er die Waffe gereinigt und sich verarztet habe, sei sie regungslos dagesessen. Er habe Angst um sie bekommen. „Ich habe meinen Verstand verloren. Ich habe sie von hinten an ihrem Halstuch genommen und gerüttelt, aber ich wollte nicht, dass sie stirbt“, behauptet S. schluchzen­d.

Dass der Gerichtsme­diziner diese Version für unplausibe­l hält, fechten die Geschworen­en nicht an. Sie verurteile­n S. nicht rechtskräf­tig für Totschlag – die Erdrosselu­ng nach der Messeratta­cke – zu fünf Jahren Haft.

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