Der Standard

„Immer aufrecht, nie auf den Knien“

Romantisch­es Selbstbild­nis und schmerzhaf­te Realität: Marie Dumora begleitet in ihrer Langzeitst­udie „Belinda“eine Frau am Rande der Gesellscha­ft.

- Robert Weixlbaume­r

INTERVIEW: Belinda war neun, als Marie Dumora sie in Avec ou sans toi (2001) zum ersten Mal mit der Kamera begleitete. Mit ihrer Schwester Sabrina war Belinda kurz zuvor in die Obhut der elsässisch­en Fürsorge genommen worden: Der Vater war in Haft, die Mutter in einer psychische­n Krise. Belinda erzählt von dem, was in den 16 Jahren danach geschah, vom Ringen einer jungen, auch delinquent­en Frau um Beziehunge­n und um Kontrolle über ihr Leben. Dumoras Film entdeckt irrwitzige, chaplinesk­e Verbrechen, unzerstörb­are Familienba­nde – aber auch Verfolgung und Trauma, die in der Minderheit der Jenischen über Generation­en weiter wirken.

Standard: „Belinda“ist Teil einer Filmserie, die Sie im Osten Frankreich­s gedreht haben. Wo beginnt diese Geschichte? Dumora: Ich habe bei einem meiner ersten Filme die beiden Schwestern, Belinda und Sabrina, kennengele­rnt, als sie noch Kinder waren. Seitdem habe ich alle meine Arbeiten in dieser Region realisiert, ein Film hat mich zum nächsten geführt. Ich hatte davor einen Film (Tu n’es pas un ange, Anm.) über eine Behörde gedreht, die Menschen, die bei der Geburt verlassen wurden, dabei unterstütz­t, etwas über ihren Ursprung zu erfahren. Nachdem ich in den staatliche­n Kinderheim­en recherchie­rt hatte, wollte ich die Kinder selbst zeigen, nicht die Arbeit der Erzieher und Betreuer. Ich wollte die Zuschauer einladen, sich mit ihnen zu identifizi­eren. Kinder sind immer unschuldig. Jeder kann sie mit Zuneigung und Mitgefühl betrachten. Aber wenn sie Jugendlich­e werden, wird es schwierige­r.

Standard: Aus den Kindern werden erwachsene Frauen, die nicht mehr ganz so gefällig sind. Dumora: Es fällt einem leicht, mit Kindern im Kino eine Beziehung herzustell­en. Doch dann wenden sich manche Zuschauer ab. Sie sind enttäuscht, dass die beiden nicht so hübsch und so gewinnend bleiben. Es gibt auch bei der Filmkritik immer wieder ein Unbehagen, das zu sehen. Wenn es in einem anderen Land wäre, würden Franzosen es mit Interesse betrachten, aber im eigenen Land erscheint es dann schnell als zu politisch. Als ob man diese Menschen nicht in ihrer Realität zeigen sollte. Die Reaktionen sind wirklich stark. Standard: Ihre Figuren erleben ihr Leben sehr intensiv. Immer wieder stehen Familienfa­ntasien im Mittelpunk­t, die Partnerbez­iehungen, das Konzept der großen Liebe, an dem auch Belinda festhält. Dumora: Ja, manchmal sprechen sie wie in einem Roman von Thomas Hardy. Zugleich sind das universell­e Formen, die wir alle teilen, ob wir reich sind oder arm. Der Unterschie­d bei diesen Figuren mag sein, dass sie absolut in der Gegenwart zu leben scheinen.

Standard: Sabrina und Belinda sind Jenische. Was ist das für eine Gemeinscha­ft? Dumora: Die Jenischen leben heute im Elsass, in Lothringen, in Deutschlan­d, viele in der Schweiz. Eine Besonderhe­it bei den Jenischen ist, dass es keinen Konsens gibt, woher sie kommen. Eine Hypothese vermutet ihren Ursprung im Dreißigjäh­rigen Krieg, im deutschspr­achigen Raum. Sie sind katholisch und waren Teil der Fahrenden. Menschen, die ein hartes Leben auf der Straße führten. In ihrer Sprache gibt es Elemente aus dem Jiddischen, aus dem Deutschen, etwas Sinti. Es gibt kein großes Interesse an dieser Gemeinscha­ft. Sie selbst finden nichts Besonderes an sich. Belinda sagte mir, dass sie eine Devise haben: „Immer aufrecht. Nie auf den Knien.“Das ist alles, was sie weiß.

Standard: Eine Episode reißt einen weiteren, traumatisc­hen Horizont auf: die Verfolgung von Belindas Großeltern in der NS-Zeit. Dumora: Ich wusste natürlich, dass die Jenischen seit langer Zeit verfolgt werden, aber die Details in Belindas Familienge­schichte kannte ich nicht. Plötzlich tauchte dieses Porträt der Großeltern auf, das aussieht, als hätte es Walker Evans fotografie­rt. Es ist eine bewegende Szene. Sie zeigt, wie wenig diese Menschen die Neigung haben, uns für ihre Verfolgung in die Verantwort­ung zu nehmen. Das hat mich sehr beschäftig­t. Sie haben die Repression so sehr internalis­iert. Aber über ein Detail wie dieses Foto kann sie sichtbar werden. 25. 10., 16.00, Urania

geb. in Chatou, dreht seit knapp fünfzehn Jahren Dokumentar­filme im Osten Frankreich­s.

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Vom Leben in der Gegenwart und dem Traum vom Glück: Marie Dumoras Langzeitbe­obachtung „Belinda“.
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MARIE DUMORA,

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