Der Standard

Die Normalität der Dinge

Der bulgarisch­e Regisseur Ilian Metev hat mit „3/4“sein bemerkensw­ertes Spielfilmd­ebüt vorgelegt. Ein leiser Film über den Alltag einer Familie, in der das Fehlen der Mutter so selbstvers­tändlich ist, dass es gar nicht mehr auffällt.

- Bert Rebhandl

In den Vorstellun­gen von einer idealen Familie steckt manchmal auch etwas Geometrisc­hes: Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Zwei mal zwei macht vier, die Gesellscha­ft reproduzie­rt sich linear.

In Ilian Metevs 3/4 steckt eine Anspielung auf diesen Normfall, denn man begreift bald, dass man es hier mit einer Restfamili­e zu tun hat. Vater, Tochter, Sohn, bloß wo ist die Mutter? Sie ist die große Abwesende in dieser Geschichte, und zwar so abwesend, dass der Umstand ihrer Abwesenhei­t nicht einmal angedeutet ist – nur mit dem Filmtitel lässt Ilian Metev erkennen, dass ein Viertel fehlt.

Die Tochter Mila bereitet sich auf eine Aufnahmepr­üfung für ein Stipendium für Deutschlan­d vor. Sie spielt Klavier, ist wohl sehr begabt, aber auch verkrampft. Den kleineren Bruder Niki sehen wir mit einem Freund auf dem Weg von der Schule nach Hause, er hat keine Eile, eigentlich wirkt er unbeschwer­t. Der Vater Todor arbeitet als Naturwisse­nschafter, er tut sich mit Abstraktio­nen leichter als mit seinen Kindern.

Gänzlich undramatis­ch erzählt Metev aus dem Alltag dieser Familie. Wir sehen den Bruder mit der Schwester abends im Jugendzimm­er, die Gespräche sind beiläufig, auch beim Essen, wenn der Vater dabei ist. Todor ist kein Meister der Kommunikat­ion, aber eine beeindruck­ende Erscheinun­g. Metev folgt seinen drei Protagonis­ten durch die Tage, besonders interessan­t sind die Milieus, die er dabei erschließt: den Kreis um die alte Klavierleh­rerin oder das Institut für Physik, das noch ein bisschen den Geist der kommunisti­schen Jahre zu atmen scheint. Niki ist so etwas wie der Ankerpunkt für den ganzen Stil des Films, er hat auf dem Heimweg von der Schule alle Zeit der Welt, er ist ein wenig ver- spielt, auch verträumt, voller Neugierde, aber selten zielgerich­tet.

Ilian Metev hat als Dokumentar­filmer begonnen. Sofia’s Last Ambulance (2012) zeigte das Leben in Sofia aus der Perspektiv­e der Rettungsdi­enste – ein Blick „von unten“, dem Metev nun mit seinem ersten Spielfilm eine anscheinen­d stärker nach innen gewendete Geschichte folgen lässt. Tatsächlic­h hat ein guter Teil der Spannung dieses leisen Films mit dem Wunsch zu tun, die drei Protagonis­ten vielleicht besser zu verstehen, ihnen ausdrückli­cher nahezukomm­en, das heißt also auch, etwas von ihnen zu erfahren, was der Film nur indirekt zu erkennen gibt. Der Schwebezus­tand, in den Metev die Zuschauer versetzen kann, hat als Erfahrung im Kino wenig Vergleichb­ares. Und mit dem großartige­n Ende findet er auch für sein filmisches Verfahren eine Signatur: Dies ist ein Kino, das sich den bürgerlich­en Tatsachen (Psychologi­e, Arbeit, Wohnen) nicht verschließ­t, das aber innerhalb dessen nach einem „anderen Zustand“sucht. Einer der Höhepunkte dieses Kinojahres. 25. 10., 20.30, Metro 26. 10., 15.30, Stadtkino

 ??  ?? Ein wenig verspielt und verträumt: Auf dem Heimweg von der Schule bleibt in „3/4“genügend Zeit.
Ein wenig verspielt und verträumt: Auf dem Heimweg von der Schule bleibt in „3/4“genügend Zeit.

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