Der Standard

Ein gespaltene­s Land

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Wenn man in diesen Tagen am Rande einer Buchpräsen­tation in London oder Oxford weilt, ist es schwierig, den allgegenwä­rtigen Eindruck zu vermeiden, dass der Brexit in den Augen der Briten die wichtigste Frage der Weltpoliti­k geworden ist. Im Mittelpunk­t der Berichters­tattung der Medien stehen die Spekulatio­nen über das Schicksal Theresa Mays und ihrer Regierung. 16 Monate nach dem Referendum ist die Debatte über die Vor- und Nachteile und die Form des Abschieds von der EU heftiger denn je, weil die unpopuläre Regierung, geführt von einer im In- und Ausland diskrediti­erten und vor allem sichtlich überforder­ten Premiermin­isterin, unter massiven dreifachen Druck geraten ist.

Eine der paradoxen Folgen des Brexits ist, dass dadurch eine überrasche­nde, wenn auch in der Substanz trügerisch­e Einheitsfr­ont entstanden ist. Von Angela Merkel bis Viktor Orbán sind alle Regierungs­chefs der EU an einem Abkommen interessie­rt, das Großbritan­nien zu wesentlich größeren finanziell­en Verpflicht­ungen zwingt als der ursprüngli­ch von May informell angebotene Betrag von 20 Milliarden Euro. Die Lage der 3,2 Millionen EUAuslände­r in Großbritan­nien beschäftig­t vor allem die in erster Linie direkt betroffene­n osteuropäi­schen Staaten. Auch Österreich kann angesichts seiner 25.000 auf der Insel lebenden Bürger nicht gleichgült­ig bleiben.

Der scheinbar konziliant­e offene Brief Mays an die EUBürger und die Mahnungen aus Brüssel haben ihre Position weiter geschwächt. Kein Deal sei besser als ein schlech- ter Deal mit der EU, lautet weiter die Devise der Pro-Brexit-Falken in Westminste­r und auch im Kabinett. Sie wären im Ernstfall sogar bereit, durch den Sturz der Ministerpr­äsidentin Neuwahlen zu riskieren.

Kein Wunder, dass in den Umfragen der überrasche­nd gut liegende Labour-Chef Jeremy Corbyn mit seinen in Brüssel geführten Gesprächen sehr zufrieden gewesen sei. Der 68jährige Politiker hat mit dem EU-Brexit-Verhandler Michel Barnier, ferner mit den Ministerpr­äsidenten Italiens, Griechenla­nds und Portugals seinen kompromiss­bereiten Kurs hinsichtli­ch der Rechte der EU-Ausländer erörtert.

Was man allerdings über die Labour auch wissen sollte, ist das tiefe Misstrauen vieler LabourAbge­ordneten und liberaler Intellektu­eller gegenüber Corbyn selbst. Während seiner über drei Jahrzehnte langen Karriere als Hinterbänk­ler im Unterhaus war er unter anderem ein Anhänger des linksextre­men Chávez in Venezuela, der Castro-Diktatur in Kuba und der palästinen­sischen Kampagnen (auch von Hamas) gegen Israel. Offener Antisemiti­smus und Sympathie für das Maduro-Regime in Venezuela kamen bei Labour-Konferenze­n zum Ausdruck.

Das verräteris­che Schweigen der Labour-Führung über diese Vorfälle und auch über Zahlungen von insgesamt 160.000 Pfund an den LabourPart­eivorsitze­nden Ian Lavery seitens seiner sterbenden Gewerkscha­ft der Bergarbeit­er wurde scharf kritisiert. Umgekehrt werden das Beamtentum, die BBC, Economist und Financial Times, die City of London, führende Unis und angesehene Richter als „Verräter“und Sündenböck­e für die Krise von glühenden BrexitProp­agandisten angegriffe­n.

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