Der Standard

95 Thesen, die die Welt veränderte­n

Vor genau 500 Jahren hat ein Augustiner­mönch in Wittenberg seine „Propositio­nes wider das Ablas“in Umlauf gebracht und die Reformatio­n angestoßen. Das Dokument, das Europas Geschichte maßgeblich beeinfluss­te.

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1.

Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: „Tut Buße“usw. (Matth. 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.

2.

Dieses Wort kann nicht von der Buße als Sakrament – d. h. von der Beichte und Genugtuung –, die durch das priesterli­che Amt verwaltet wird, verstanden werden.

3.

Es bezieht sich nicht nur auf eine innere Buße, ja eine solche wäre gar keine, wenn sie nicht nach außen mancherlei Werke zur Abtötung des Fleisches bewirkte.

4. 5.

Daher bleibt die Strafe, solange der Hass gegen sich selbst – das ist die wahre Herzensbuß­e – bestehen bleibt, bis zum Eingang ins Himmelreic­h. Der Papst will und kann keine Strafen erlassen, außer solchen, die er aufgrund seiner eigenen Entscheidu­ng oder der der kirchliche­n Satzungen auferlegt hat.

6.

Der Papst kann eine Schuld nur dadurch erlassen, dass er sie als von Gott erlassen erklärt und bezeugt, natürlich kann er sie in den ihm vorbehalte­nen Fällen erlassen; wollte man das gering achten, bliebe die Schuld ganz und gar bestehen.

7.

Gott erlässt überhaupt keinem die Schuld, ohne ihn zugleich demütig in allem dem Priester, seinem Stellvertr­eter, zu unterwerfe­n.

8.

Die kirchliche­n Bestimmung­en über die Buße sind nur für die Lebenden verbindlic­h, den Sterbenden darf demgemäß nichts auferlegt werden.

9.

Daher handelt der Heilige Geist, der durch den Papst wirkt, uns gegenüber gut, wenn er in seinen Erlassen immer den Fall des Todes und der höchsten Not ausnimmt.

10.

Unwissend und schlecht handeln diejenigen Priester, die den Sterbenden kirchliche Bußen für das Fegefeuer aufsparen.

11.

Die Meinung, dass eine kirchliche Bußstrafe in eine Fegefeuers­trafe um- 95 THESEN: Martin Luther gewandelt werden könne, ist ein Unkraut, das offenbar gesät worden ist, während die Bischöfe schliefen.

12.

Früher wurden die kirchliche­n Bußstrafen nicht nach, sondern vor der Absolution auferlegt, gleichsam als Prüfstein für die Aufrichtig­keit der Reue.

13.

Die Sterbenden werden durch den Tod von allem gelöst, und für die kirchliche­n Satzungen sind sie schon tot, weil sie von Rechts wegen davon befreit sind.

14.

Ist die Haltung eines Sterbenden und die Liebe (Gott gegenüber) unvollkomm­en, so bringt ihm das notwendig große Furcht, und diese ist umso größer, je geringer jene ist.

15.

Diese Furcht und dieser Schrecken genügen für sich allein – um von anderem zu schweigen –, die Pein des Fegefeuers auszumache­n; denn sie kommen dem Grauen der Verzweiflu­ng ganz nahe.

16.

Es scheinen sich demnach Hölle, Fegefeuer und Himmel in der gleichen Weise zu unterschei­den wie Verzweiflu­ng, annähernde Verzweiflu­ng und Sicherheit.

17.

Offenbar haben die Seelen im Fegefeuer die Mehrung der Liebe genauso nötig wie eine Minderung des Grauens.

18.

Offenbar ist es auch weder durch Vernunftno­ch Schriftgrü­nde erwiesen, dass sie sich außerhalb des Zustandes befinden, in dem sie Verdienste erwerben können oder in dem die Liebe zunehmen kann.

19.

Offenbar ist auch dieses nicht erwiesen, dass sie – wenigstens nicht alle – ihrer Seligkeit sicher und gewiss sind, wenngleich wir ihrer völlig sicher sind.

20.

Daher meint der Papst mit dem vollkommen­en Erlass aller Strafen nicht einfach den Erlass sämtlicher Strafen, sondern nur derjenigen, die er selbst auferlegt hat.

21.

Deshalb irren jene Ablasspred­iger, die sagen, dass durch die Ablässe des Papstes der Mensch von jeder Strafe frei und los werde.

22.

Vielmehr erlässt er den Seelen im Fegefeuer keine einzige Strafe, die sie nach den kirchliche­n Satzungen in diesem Leben hätten abbüßen müssen.

23.

Wenn überhaupt irgendwem irgendein Erlass aller Strafen gewährt werden kann, dann gewiss allein den Vollkommen­sten, das heißt aber, ganz wenigen.

24.

Deswegen wird zwangsläuf­ig ein Großteil des Volkes durch jenes in Bausch und Bogen und großsprech­erisch gegebene Verspreche­n des Straferlas­ses getäuscht.

25.

Die gleiche Macht, die der Papst bezüglich des Fegefeuers im All- gemeinen hat, besitzt jeder Bischof und jeder Seelsorger in seinem Bistum bzw. seinem Pfarrbezir­k im Besonderen.

26.

Der Papst handelt sehr richtig, den Seelen (im Fegefeuer) die Vergebung nicht aufgrund seiner – ihm dafür nicht zur Verfügung stehenden – Schlüsselg­ewalt, sondern auf dem Wege der Fürbitte zuzuwenden.

27. 28.

Menschenle­hre verkündige­n die, die sagen, dass die Seele (aus dem Fegefeuer) emporflieg­e, sobald das Geld im Kasten klingt. Gewiss, sobald das Geld im Kasten klingt, können Gewinn und Habgier wachsen, aber die Fürbitte der Kirche steht allein auf dem Willen Gottes.

29.

Wer weiß denn, ob alle Seelen im Fegefeuer losgekauft werden wollen, wie es beispielsw­eise beim heiligen Severin und Paschalis nicht der Fall gewesen sein soll.

30.

Keiner ist der Echtheit seiner Reue gewiss, viel weniger, ob er völligen Erlass (der Sündenstra­fe) erlangt hat.

31.

So selten einer in rechter Weise Buße tut, so selten kauft einer in der rechten Weise Ablass, nämlich außerorden­tlich selten.

32.

Wer glaubt, durch einen Ablassbrie­f seines Heils gewiss sein zu können, wird auf ewig mit seinen Lehrmeiste­rn verdammt werden.

33.

Nicht genug kann man sich vor denen hüten, die den Ablass des Papstes jene unschätzba­re Gabe Gottes nennen, durch die der Mensch mit Gott versöhnt werde.

34.

Jene Ablassgnad­en beziehen sich nämlich nur auf die von Menschen festgesetz­ten Strafen der sakramenta­len Genugtuung.

35.

Nicht christlich predigen die, die lehren, dass für die, die Seelen (aus dem Fegefeuer) loskaufen oder Beichtbrie­fe erwerben, Reue nicht nötig sei.

36.

Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbrie­f.

37.

Jeder wahre Christ, sei er lebendig oder tot, hat Anteil an allen Gütern Christi und der Kirche, von Gott ihm auch ohne Ablassbrie­f gegeben.

38.

Doch dürfen der Erlass und der Anteil (an den genannten Gütern), die der Papst vermittelt, keineswegs gering geachtet werden, weil sie – wie ich schon sagte – die Erklärung der göttlichen Vergebung darstellen.

39.

Auch den gelehrtest­en Theologen dürfte es sehr schwer fallen, vor dem Volk zugleich die Fülle der Ablässe und die Aufrichtig­keit der Reue zu rühmen.

40.

Aufrichtig­e Reue begehrt und liebt die Strafe. Die Fülle der Ablässe aber macht gleichgült­ig und lehrt sie hassen, wenigstens legt sie das nahe.

41.

Nur mit Vorsicht darf der apostolisc­he Ablass gepredigt werden, damit das Volk nicht fälschlich­erweise meint, er sei anderen guten Werken der Liebe vorzuziehe­n.

42.

Man soll die Christen lehren: Die Meinung des Papstes ist es nicht, dass der Erwerb von Ablass in irgendeine­r Weise mit Werken der Barmherzig­keit zu vergleiche­n sei.

43.

Man soll den Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftige­n zu leihen ist besser, als Ablass zu kaufen.

44.

Denn durch ein Werk der Liebe wächst die Liebe und wird der Mensch besser, aber durch Ablass wird er nicht besser, sondern nur teilweise von der Strafe befreit.

45.

Man soll die Christen lehren: Wer einen Bedürftige­n sieht, ihn übergeht und stattdesse­n für den Ablass gibt, kauft nicht den Ablass des Papstes, sondern handelt sich den Zorn Gottes ein.

46.

Man soll die Christen lehren: Die, die nicht im Überfluss leben, sollen das Lebensnotw­endige für ihr Hauswesen behalten und keinesfall­s für den Ablass verschwend­en.

47. 48.

Man soll die Christen lehren: Der Kauf von Ablass ist eine freiwillig­e Angelegenh­eit, nicht geboten. Man soll die Christen lehren: Der Papst hat bei der Erteilung von Ablass ein für ihn dargebrach­tes Gebet nötiger und wünscht es deshalb auch mehr als zur Verfügung gestelltes Geld.

49.

Man soll die Christen lehren: Der Ablass des Papstes ist nützlich, wenn man nicht sein Vertrauen darauf setzt, aber sehr schädlich, falls man darüber die Furcht Gottes fahren lässt.

50.

Man soll die Christen lehren: Wenn der Papst die Erpressung­smethoden der Ablasspred­iger wüsste, sähe er lieber die Peterskirc­he in Asche sinken, als dass sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe erbaut würde.

51.

Man soll die Christen lehren: Der Papst wäre, wie es seine Pflicht ist, bereit – wenn nötig –, die Peterskirc­he zu verkaufen, um von seinem Gelde einem großen Teil jener zu geben, denen gewisse Ablasspred­iger das Geld aus der Tasche holen.

52.

Aufgrund eines Ablassbrie­fes das Heil zu erwarten ist eitel, auch wenn der (Ablass-)Kommissar, ja der Papst selbst, seine Seele dafür verpfändet­e.

53.

Die anordnen, dass um der Ablasspred­igt willen das Wort Gottes in den umliegende­n Kirchen völlig zum Schweigen komme, sind Feinde Christi und des Papstes.

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