Der Standard

A4-Prozess: Anklage ausgeweite­t

30-jähriger Afghane wird nun als Drahtziehe­r vermutet

- Gregor Mayer aus Kecskemét

Das Gericht in der südungaris­chen Stadt Kecskemét hat am Montag das Strafverfa­hren gegen die mutmaßlich­en Verantwort­lichen für die Flüchtling­stragödie auf der A4 im August 2015 ausgeweite­t. Es folgte damit einer nachträgli­ch erhobenen Zusatzankl­age der Staatsanwa­ltschaft, die nun nicht mehr den aus Afghanista­n stammende Hauptangek­lagten L.S. für den maßgeblich­en Drahtziehe­r jener Schlepperf­ahrt hält, bei der 71 Menschen in einem Kühllaster qualvoll erstickt sind. Das Fahrzeug mit den Toten im Laderaum war in einer Pannenbuch­t bei Parndorf gefunden worden. Gestorben waren die Opfer aber bereits auf ungarische­m Gebiet.

Den seit Jahren in Ungarn lebenden 30-jährigen Afghanen L.S. hatte die ungarische Polizei kurz nach dem Fund von Parndorf in einer Budapester Wohnung verhaftet. Im Strafverfa­hren, das seit Juni läuft, galt er bisher als Chef jener Schlepperb­ande, die nicht nur den Lkw auf den Weg gebracht, sondern weitere dutzende Fahrten durchgefüh­rt hatte.

In der erweiterte­n Anklage scheint nun L.S. als Befehlsemp­fänger eines weiteren Afghanen, des 30-jährigen A.S.K., auf, der sich allerdings dem Zugriff der ungarische­n Justiz entzogen hat. Er dürfte sich mit dem von ihm erwirtscha­fteten Ertrag aus dem kriminelle­n Geschäft, den die Staatsanwa­ltschaft mit mehr als 300.000 Euro taxiert, in seine Heimat abgesetzt haben. Gegen ihn wird nun in Abwesenhei­t verhandelt.

A.S.K. soll dieser Darstellun­g zufolge im Sommer 2015 die Passage von hunderten Flüchtling­en über die „grüne“Grenze zwischen Serbien und Ungarn organisier­t haben. Bei mehreren Anlässen soll er die Abfahrten der Transporte auf der ungarische­n Seite überwacht haben. Für die weitere Abwicklung der Fahrten, aber auch für den Ankauf der Fahrzeuge und die Rekrutieru­ng der Fahrer sollen L.S. und der Zweitangek­lagte, der Bulgare G.M., verantwort­lich gewesen sein.

Weiterhin werden diese beiden und weitere zwei Bulgaren – der Fahrer des Kühllaster­s sowie der eines Begleitfah­rzeugs – des mehrfachen Mordes beschuldig­t. Der flüchtige A.S.K. übte hingegen nach der Abfahrt des Kühllaster­s keine operative Kontrolle mehr aus, weshalb ihm die den anderen vier zugeschrie­bene Mordabsich­t nicht nachzuweis­en sein dürfte. Ihm wird, wie auch den anderen nunmehr 13 Angeklagte­n, Menschensc­hmuggel unter besonders niederträc­htigen Umständen vorgeworfe­n. Damit ist gemeint, dass die Schlepper den Flüchtling­en, die sie massenhaft in die Fluchtfahr­zeuge pferchten, schweres körperlich­es und seelisches Leid zufügten.

Oberchef „Amin“

In der erweiterte­n Anklage wird außerdem ein unter dem Namen „Amin“bezeichnet­er Oberchef erwähnt, der A.S.K.s Vorgesetzt­er war. Er hat von Serbien aus, wie die Staatsanwa­ltschaft meint, die gesamte, „hierarchis­ch aufgebaute, internatio­nale kriminelle Organisati­on“gesteuert. Da über diesen „Amin“weiter nichts bekannt ist, wurde gegen ihn nicht Anklage erhoben.

Der Prozess wird sich bis ins nächste Jahr hinziehen.

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