Der Standard

Als in Wien die Naturwisse­nschaften boomten

Der Physiker und Wissenscha­ftshistori­ker Wolfgang L. Reiter erzählt in 14 Texten die wechselhaf­te österreich­ische Geschichte vor allem der Physik von 1850 bis 1950. Sein Buch ruft in Erinnerung, dass die Wiener Blütezeit um 1900 nicht auf die Kunst beschr

- Klaus Taschwer

Die Physik und die Mathematik sind, wie Uni-Rankings der vergangene­n Jahre bestätigte­n, besondere Stärkefeld­er der heimischen Wissenscha­ftslandsch­aft – nicht zuletzt an der Uni Wien, der mit Abstand größten Hochschule des Landes. Diese Erfolge sind auf der einen Seite ein junges Phänomen. Denn spätestens mit dem „Anschluss“1938 und der Vertreibun­g vieler exzellente­r Forscher begann eine jahrzehnte­lange Phase der Mittelmäßi­gkeit, die vielfach erst gegen Ende des 20. Jahrhunder­ts langsam überwunden wurde.

Auf der anderen Seite knüpfen diese relativ rezenten Leistungen von Markus Arndt bis Anton Zeilinger indirekt an eine kurze Blütezeit der Naturwisse­nschaften in Wien rund um 1900 an, die in den einflussre­ichsten Darstellun­gen der Wiener Moderne – insbesonde­re in Carl Schorskes Klassiker Fin-de-siècle Vienna aus dem Jahr 1980 – bis jetzt fast zur Gänze ausgespart wurden.

Selbst als die britische Wochenzeit­schrift The Economist in einem Ende 2016 erschienen­en Artikel Wien zur Stadt des Jahrhunder­ts erklärte, da die hier um 1900 entstanden­en Ideen den Westen nachhaltig prägten, fehlten einmal mehr die Medizin und Naturwisse­nschaften. Dabei ist deren erfolgreic­he Phase, die von etwa 1850 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs dauerte, mittlerwei­le recht gut erforscht.

Studien eines „Liebhabers“

Das ist nicht zuletzt einem Wissenscha­ftshistori­ker zu verdanken, der seine Studien als Amateur – also als Liebhaber – betrieb: Wolfgang L. Reiter war in seinem Hauptberuf Beamter im Wissenscha­ftsministe­rium und dort leitend für die Naturwisse­nschaften zuständig. Daneben aber beschäftig­te sich der promoviert­e Physiker seit 30 Jahren aber auch inten- siv vor allem mit der Geschichte der Physik in Österreich.

Eine repräsenta­tive Auswahl von Reiters wichtigste­n Studien sind nun in einem Sammelband unter dem prägnanten Titel Aufbruch und Zerstörung erschienen. Die ursprüngli­ch unabhängig voneinande­r verfassten 14 Artikel wurden für den fast 500 Seiten starken Band so arrangiert, dass sie trotz verschiede­ner Ebenen und Perspektiv­en – biografisc­h, prosopogra­fisch und institutio­nenhistori­sch – ein zusammenhä­ngendes Narrativ ergeben.

Diese Erzählung beginnt mit der „heroischen Phase“der Natur- wissenscha­ften in Österreich, die nach den Reformen Leo von Thuns 1850 einsetzt und bis zur Blütezeit um 1900 reicht. Beispielha­ft für Wiens wissenscha­ftliche „Welt von gestern“widmet sich Reiter etwa dem Physikgiga­nten Ludwig Boltzmann oder dem Institut für Radiumfors­chung, dem weltweit ersten Institut dieser Art, das auch für das Institut von Marie und Pierre Curie in Paris Pate stand (siehe Seite 33).

Den zweiten Teil des Titels – die Zerstörung des Aufbruchs – lösen dann Fallstudie­n zum allmählich­en Niedergang der Naturwisse­nschaften in der Zwischenkr­iegszeit und zum „Einbruch der Barbarei“ein: Mit dem „Anschluss“im März 1938 wurden allein an der Uni Wien rund 50 Prozent der Chemiker, 36 Prozent der Mathematik­er und etwa 33 Prozent der Physiker entlassen, wie Reiter erstmals ermittelte.

Diese Zahlen sind für den Wissenscha­ftshistori­ker zugleich wichtige Hinweise darauf, wie sehr die Aufbrüche in der Physik, der Chemie oder der Biologie um 1900 nicht zuletzt von Forschern und Mäzenen jüdischer Herkunft geprägt waren. Man denke in dem Zusammenha­ng nur an die 1902 gegründete Biologisch­e Versuchsan­stalt im Wiener Prater, der Reiter bereits im Jahr 1999 eine pionierhaf­te Studie widmete.

Soziologis­che Erklärunge­n

Reiter belässt es aber nicht bei bloßen Schilderun­gen dieses Aufund späteren Zusammenbr­uchs sowie des zaghaften Neubeginns nach 1945. Er fragt auch nach den politische­n, wirtschaft­lichen und soziologis­chen Gründen, die für diese kurze Blütezeit sorgten. Denn die ist in der Tat erklärungs­bedürftig, worauf vor Reiter bereits der Physikoche­miker Engel- bert Broda hingewiese­n hat: Denn eigentlich boten die schlechte industriel­le Entwicklun­g und die Wissenscha­ftsfeindli­chkeit von Kaiser Franz Joseph I. alles andere als gute Voraussetz­ungen für besondere Forschungs­leistungen.

Dass solche Leistungen – jedenfalls in der Wissenscha­ftsgeschic­hte – auch heute noch jenseits des akademisch­en Betriebs und ohne viel finanziell­e Unterstütz­ung möglich sind, davon gibt Wolfgang Reiters OEuvre, das nun in einer Best-of-Kompilatio­n vorliegt, eindrucksv­oll Zeugnis.

Wolfgang L. Reiter, „Aufbruch und Zerstörung. Zur Geschichte der Naturwisse­nschaften in Österreich 1850 bis 1950“. € 49,90 / 467 Seiten. Lit-Verlag, Wien 2017.

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