Der Standard

Wie Pflanzen neue Lebensräum­e erschließe­n

Epigenetik prägt die Identität von Zellen und kontrollie­rt ihre Funktion im Organismus. Wiener Wissenscha­fter erforschen, wie Pflanzen trotzdem flexibel bleiben und sich selbst klonen können.

- Kurt de Swaaf

Wien – Der Gewitterst­urm hat ganze Arbeit geleistet. Die Bäume am Flussufer wurden regelrecht gerupft, ihre Zweige liegen in Massen auf dem Boden. Doch es sind Weiden der Art Salix fragilis, und das heißt: Der Verlust ist vorgesehen. Viele der Bruchstück­e werden vom Wasser fortgetrag­en. Stranden sie später an günstigen Stellen, schlagen sie schnell Wurzeln. Die Weiden bekommen Ableger. Um dem Wind die Arbeit zu erleichter­n, haben die Ästchen sogar spezielle Sollbruchs­tellen. Eine raffiniert­e Verbreitun­gsstrategi­e.

Ähnliche Formen der ungeschlec­htlichen Vermehrung sind bei Pflanzen nichts Ungewöhnli­ches. Aus einem Teil des Gewächses entsteht ein vollständi­ger, genetisch identische­r Nachkomme. „Sich selbst zu klonen ist eine gute Möglichkei­t, um neue Lebensräum­e zu kolonisier­en“, erklärt der Biologe Frédéric Berger vom Gregor-Mendel-Institut (GMI) der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften in Wien. Das Prinzip macht sich auch die Gärtnerei zunutze. Aus kleinen Zweigabsch­nitten können zum Beispiel prächtige Geranien gezüchtet werden. Bei Tieren gelingt so etwas bekanntlic­h nicht – wenige primitive Wirbellose ausgenomme­n. Pflanzenze­llen sind eben flexibler, wie Berger betont. Das ermögliche der Regenerati­on erstaunlic­he Perspektiv­en.

Die physiologi­schen Grundlagen dieser Wandlungsf­ähigkeit werfen in der Forschung allerdings noch sehr viele Fragen auf. Bekannt ist, dass die Identität einer Zelle, ihre Rolle und Aufgaben im Organismus, auf einer epigenetis­chen Regulierun­g basiert. Das heißt: Bestimmte Gene werden aktiviert, andere dagegen abgeschalt­et – mitunter dauerhaft. Dieses Regelwerk selbst wiederum beruht unter anderem auf der Verdichtun­g der DNA zu sogenannte­n Nukleosome­n. Sowohl Pflanzen wie auch Tiere nutzen das Verfahren, um ihr Genmateria­l platzspare­nd unterzubri­ngen. „Die Erbgutsträ­nge einer einzigen menschlich­en Zelle sind insgesamt an die zwei Meter lang“, sagt Frédéric Berger. Eine solche Menge sollte nicht ungeordnet im Zellkern herumflott­ieren. Deshalb werden die DNA-Fäden fest um Proteinküg­elchen gewunden. Das Endergebni­s ähnelt einer Schmuckket­te im Mikroforma­t. Jede Perle ist ein Nukleosom.

Geniestrei­ch der Evolution

Das Geheimnis der epigenetis­chen Kontrolle steckt zum Teil in diesem Geniestrei­ch der Evolution. Die besagten Kügelchen bestehen hauptsächl­ich aus Histonen, Proteinkom­ponenten, von denen es vier verschiede­ne Grundtypen gibt. Solange die DNA fest an die Histone gebunden ist, bleibt sie inaktivier­t. Abgesehen davon können sowohl die Proteine wie auch die einzelnen DNA-Bausteine, die Basen, mit kleinen Kohlenwass­erstoff-Fragmenten (CH3) verknüpft werden. Fachleute bezeichnen diesen Pro- zess als DNA-Methylieru­ng. Sollte der Code eines Gens jedoch abgelesen werden, muss der entspreche­nde Abschnitt vorübergeh­end gelöst und frei von blockieren­den Anhängseln sein. Sonst hätten die zuständige­n Enzyme keinen Zugriff auf das Erbgut.

Da die Epigenetik die Zellidenti­tät bestimmt, muss sie im Normalfall stabil sein. Was aber passiert bei einer Zellteilun­g? Sie beinhaltet eine Replikatio­n der DNA-Stränge. Im Kopiervorg­ang werden die Nukleosome­n und die Anbindunge­n aufgelöst, die neuen DNA-Ketten sind noch nicht mit den notwendige­n Methylieru­ngen ausgestatt­et. Wie also kann das ursprüngli­che epigenetis­che Muster in den beiden Tochterzel­len erhalten bleiben? Genau dieser Frage geht Frédéric Berger mit seinem Team nach.

Jetzt ist ihnen dabei eine bedeutende Entdeckung gelungen. Die Wissenscha­fter analysiert­en das biochemisc­he Verhalten des Histonprot­eins H3.1 während der DNA-Replikatio­n in Pflanzenze­llen. H3.1 wird vom Trägermole­kül CAF1 direkt an der Replikatio­nsgabel positionie­rt – dort, wo andere Proteingeb­ilde den eigentlich­en Kopiervorg­ang durchführe­n. Später durchläuft H3.1 eine dreifache Methylieru­ng, inklusive Anbindung an die angrenzend­e DNA. Die epigenetis­che Markierung wird an die nächste Zellgenera­tion weitergege­ben.

Zusätzlich­es Enzym

Der oben beschriebe­ne Ablauf findet bei Tieren und Pflanzen statt. Letztere verfügen noch über ein zusätzlich involviert­es Enzym mit der Bezeichnun­g ATXR5/6. Wie die GMI-Forscher nun herausfand­en, agiert ATRX5/6 außergewöh­nlich schnell und startet die Methylieru­ng bereits in einer frühen Phase der Zellteilun­g (vgl.: Science, Onlinevora­bveröffent­lichung). Das erhöht wahrschein­lich die Stabilität der epigenetis­chen Vererbung. „In Tieren wird die Methylieru­ng erst nach der Teilung wieder vollständi­g hergestell­t“, erklärt Frédéric Berger. Dafür würden diese allerdings die Zellidenti­tät viel stärker über andere Regelwerke steuern. Und damit die Flexibilit­ät insgesamt verringern.

Es ist gewisserma­ßen ein Paradox, meint Berger. „Der von uns entdeckte Mechanismu­s hilft, die Zellidenti­tät während des Teilungspr­ozesses strikt aufrechtzu­erhalten.“Doch diese Art der Kontrolle ermögliche es den Pflanzen vermutlich auch, ihre Zellsteuer­ung anderswo weniger rigide zu gestalten – was der Regenerati­onsfähigke­it sehr zugutekäme. Die Experten am GMI wollen den Geheimniss­en dieser flexiblen Regulierun­g ebenfalls auf die Spur kommen. Es scheint, als wären weitere Histonprot­eine darin involviert.

Bergers Forschungs­ergebnisse dürften auch wirtschaft­lich interessan­t sein. Eventuell bieten sie der Agrarindus­trie neue Chancen zur Entwicklun­g von verbessert­en Klonierung­stechniken, was unter anderem der Getreidepr­oduktion höhere Erträge bescheren könnte.

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