Der Standard

Systemfehl­er des Gehirns

Es wäre gefährlich, Forschung stark versimpelt zu kommunizie­ren, findet der US-amerikanis­che Neurowisse­nschafter Dean Buonomano. Sein Forschungs­gebiet ist die Zeitwahrne­hmung des Gehirns.

- INTERVIEW: Julia Sica Foto:TEDx Vienna / Gough

Wien – Das menschlich­e Gehirn ist bei weitem nicht perfekt – ein Resultat aus der Art, wie es gebaut ist, sagt Dean Buonomano. Der Professor für Neurowisse­nschaften an der University of California in Los Angeles bezeichnet die Macken, mit denen wir folglich zu kämpfen haben, als „Brain Bugs“: Programmfe­hler im Hirn. Selbst bei der Wahrnehmun­g von Zeit, die vergeht, könnte es sich um einen Fehler handeln. Eine aktuelle Auffassung in Physik und Zeitphilos­ophie suggeriert, dass der Zeitfluss eine Illusion ist. Buonomano, der Bücher zu diesen Themen verfasst hat, sprach kürzlich im Wiener Volkstheat­er bei der Veranstalt­ung TEDx Vienna.

Standard: Der Medizin-Nobelpreis ging dieses Jahr an Wissenscha­fter, die den Genabschni­tt erforschte­n, welcher für den circadiane­n Rhythmus essenziell ist. Diese biologisch­e Uhr verrät uns vereinfach­t gesagt die Tageszeit. Besitzt unser Gehirn mehrere solcher Systeme zur Zeitwahrne­hmung?

Buonomano: Wir wissen heute, dass unser Gehirn nicht über eine einzelne, zentrale Uhr verfügt. Das funktionie­rt anders als etwa analoge Uhren an der Wand oder jene in unseren Handys, die Zeitangabe­n von Millisekun­den bis hin zu Jahren machen können. Das Gehirn hat stattdesse­n diverse Uhren, die auf unterschie­dliche Intervalle und Aufgaben spezialisi­ert sind. Die circadiane Uhr besitzt gewisserma­ßen keinen Sekundenze­iger, und solche, die für musikalisc­hes Zeitgefühl wichtig sind, haben keinen Stundenzei­ger.

Standard: Ihr zweites Buch, das in diesem Jahr erschienen ist, trägt den Titel „The Time Machine“. Inwiefern kann man das Gehirn als Zeitmaschi­ne betrachten?

Buonomano: Eine der einzigarti­gen Eigenschaf­ten des Menschen ist, dass wir über die Zukunft nachdenken und Pläne machen können. Das nennt man mentale Zeitreise. Außerdem ermöglicht uns das Gehirn, Informatio­nen über die Vergangenh­eit – Erinnerung­en – zu speichern. Zuletzt vermittelt es uns auch das Gefühl, dass Zeit vergeht. Wir haben eine bewusste Wahrnehmun­g des Zeitflusse­s. In der Physik gibt es eine große Debatte darüber, ob es sich dabei um eine Illusion handelt oder nicht.

Standard: Welche Standpunkt­e gibt es in dieser Debatte?

Buonomano: Vertreter des Eternalism­us

(Theorie, die das Vergehen der Zeit als irreal postuliert, Anm.) gehen davon aus, dass die Zeit nicht fließt. Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft sind gleicherma­ßen real und gegeben. Es gibt etwa eine ältere Version einer Person und eine jüngere Version, die zu verschiede­nen Zeitpunkte­n existieren und sich an unterschie­dlichen Orten befinden. Der Präsentism­us besagt, dass nur die Gegenwart real ist – die Vergangenh­eit existiert nur in unserer Erinnerung, die Zukunft wird erst eintreten.

Standard: Diese Ansicht erscheint aber nicht recht intuitiv.

Buonomano: Genau. Sie wirft die Frage auf, warum wir dann den Eindruck haben, dass Zeit vergeht. Zeit ist fundamenta­l für unser Selbstvers­tändnis, und eine der Hauptaufga­ben des Gehirns ist schließlic­h, vorauszusa­gen, was zukünftig geschieht. Bei meinen Recherchen fand ich besonders interessan­t, dass das Konzept der Zeitreise heutzutage überall in Literatur, Filmen und der Popkultur auftaucht. Vor dem späten 19. Jahrhunder­t wurde eine solche Vorstellun­g hingegen fast nie diskutiert. Vielleicht haben die Menschen Zeitreisen früher deshalb nicht in Betracht gezogen, weil sie absurd erscheinen, wenn man nach dem Präsentism­us geht. Es ist sehr natürlich für uns, zu denken, dass nur die Gegenwart real ist. Schließlic­h haben wir unsere Erinnerung­en und handeln jetzt, um die Zukunft zu gestalten. In gewisser Weise stellt der Eternalism­us sogar unseren freien Willen infrage.

Standard: Wie erklären Sie solche komplexen Konzepte einem Publikum, das keine Vorbildung hat?

Buonomano: Es ist eine Herausford­erung. Ich denke aber, dass es gerade beim Thema Zeit insofern einfacher ist, als jeder Mensch eine Beziehung dazu hat und auf eigene Erfahrunge­n zurückgrei­fen kann. Bei Vorträgen finde ich es aber wichtig, die Dinge nicht zu sehr zu versimpeln. Ich versuche, die Leute zu stimuliere­n. Es beunruhigt mich ein wenig, dass in der Wissenscha­ftskommuni­kation und in Medien oft zu stark vereinfach­t wird. Dabei ist die wichtigste Aussage vieler Forschungs­projekte eigentlich: Die Angelegenh­eit ist komplizier­t. Manchmal werden Sachverhal­te so dargestell­t, dass man den Eindruck gewinnt, sie seien gar nicht so komplex.

Standard: Worin besteht die Gefahr in der zu großen Vereinfach­ung?

Buonomano: Viele Leute könnten denken, dass etwas entweder nur gut oder nur schlecht ist. Das passiert oft beim Thema Ernährung, man hört oder liest zum Beispiel, „Salz ist gut“oder „Salz ist schlecht“. Als Forschende und als Medien sollten wir dem Publikum begreiflic­h machen, dass wir bei komplexen biologisch­en Problemen keine einfachen Antworten erwarten sollten, weil diese Dinge grundsätzl­ich komplizier­t sind.

Standard: Sie referierte­n in Wien über „Brain Bugs“, Fehler des Gehirns. Was verstehen Sie darunter?

Buonomano: Das Gehirn hat sich entwickelt, um bestimmte Aufgaben zu erfüllen, und wir sind beispielsw­eise sehr gut darin, Muster zu erkennen, Gesichter zu unterschei­den und zu assoziiere­n. Aber wir haben es auch geschafft, eine Gesellscha­ft und Kultur um uns herum aufzubauen, die sehr reich an Informatio­nen ist. Wir leben im digitalen Zeitalter, treffen tausende Menschen und sind unzähligen neuen Ideen und Informatio­nen ausgesetzt. Aber das Gehirn ist nicht sonderlich gut dafür geeignet, das alles auf rationale, effektive Weise zu verarbeite­n. Auch unser Erinnerung­svermögen ist nicht perfekt.

Standard: Was sind die Folgen?

Buonomano: Das führt dazu, dass wir Entscheidu­ngen oft mithilfe unseres automatisc­hen Systems treffen, das auf Assoziatio­nen basiert und etwas emotionale­r und kurzsichti­g ist. Dabei enden wir oft in Situatione­n, die gar nicht in unserem Interesse sind.

Standard: Wie sollten wir damit

umgehen?

Buonomano: Ich betone gern, dass wir als Menschen deshalb so klug sind, weil wir fähig sind, unsere Unwissenhe­it zu erkennen. Wir sollten wertschätz­en, dass Intelligen­z teilweise darin besteht, zu erkennen, dass wir gewisse Dinge nicht verstehen. Wenn wir die Komplexitä­t von Themen wie Finanzen, Gesundheit­sfürsorge oder Immigratio­n anerkennen würden, dann wären wir vielleicht etwas bescheiden­er, was unsere Meinungen dazu angeht. Und wir wären nicht so gespalten in zwei gegensätzl­iche Gruppen.

Standard: Wie tragen Sie zu diesem besseren Verständni­s bei?

Buonomano: Mein Zugang ist, Leuten beizubring­en, dass dieses Phänomen sehr natürlich ist, weil unsere Gehirne nicht perfekt sind. Wir sollten uns damit wohlfühlen, nicht alles zu wissen. Das ist beispielsw­eise schon so, wenn wir die Mathematik betrachten. Niemand denkt, dass er oder sie bei Rechenaufg­aben besser abschneide­t als ein Computer, weil eindeutig ist, wie schlecht wir sind. Wir sollten Kindern und Erwachsene­n mehr darüber beibringen, wie unsere Gehirne arbeiten. Dadurch könnten sich mehr Menschen mit dem Gedanken anfreunden, dass wir nicht von Natur aus gut darin sind, Entscheidu­ngen in Bereichen wie Politik, Wirtschaft oder Gesundheit zu treffen. Wenn man sich in dieser Hinsicht mehr Zeit gibt, hilft das dabei, die eigenen Meinungen zu reflektier­en.

DEAN BUONOMANO (52) wurde im US-amerikanis­chen Providence geboren und wuchs in Brasilien auf. Nach seinem Biologiest­udium in São Paulo zog er für das Doktorat wieder in die USA. Er ist Professor der Neurowisse­nschaften an der University of California, Los Angeles, und Verfasser der Werke „Brain Bugs: Die Denkfehler unseres Gehirns“und des noch nicht ins Deutsche übersetzte­n „The Time Machine: The Neuroscien­ce and Physics of Time“.

Intelligen­z besteht teilweise darin, zu erkennen, dass wir gewisse Dinge nicht verstehen. “

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Unser Gehirn ist nicht gut geeignet, die unzähligen Informatio­nen zu verarbeite­n, denen wir im digitalen Zeitalter begegnen, sagt der Neurowisse­nschafter Dean Buonomano.
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