Der Standard

Kinderarmu­t in Österreich

Trotz Konjunktur­plus lebt nach wie vor jedes fünfte Kind in Armut oder Armutsgefa­hr. Die Folgen: Scham, Ausschluss, Bildungsde­fizite und Gesundheit­sgefahren.

- Irene Brickner, Gudrun Springer

Trotz guter Konjunktur lebt jedes fünfte Kind in Armut oder Armutsgefa­hr – mit schlimmen Folgen.

Jede Form der tollen Freizeitge­staltung fällt weg“, sagt eine Lehrerin einer Neuen Mittelschu­le in Wien, die beobachtet, dass viele ihrer Schüler in prekären finanziell­en Verhältnis­sen leben. Die Eltern seien oft alleinerzi­ehend, mit Migrations­hintergrun­d, arbeitslos und/oder Bezieher von Mindestsic­herung. „Für die Schüler ist es das Schlimmste, wenn jemand zu ihnen sagt: Gib zu, du kannst dir das nicht leisten“, sagt die Pädagogin. „Viele Kinder haben ganz viel Stress damit, ihre Armut zu kaschieren.“Auch Väter und Mütter würden sich oft schämen, um Ermäßigung­en anzusuchen.

Der Sozialexpe­rte Martin Schenk bestätigt diese Schilderun­gen. Auf die Beziehunge­n zu Freunden und Mitschüler­n, sagt er, wirke sich das Nicht-Mitmachen-Können, weil die Eltern nur wenig Einkommen haben, zerstöreri­sch aus (Artikel unten).

Etwa, wenn eine Kinderpart­y steige und als Mitbringse­l mindestens ein Lego-Bauset erwartet werde, das unter 18, 19 Euro nicht zu haben ist: „Manche Kinder, die wissen, dass sich die Eltern das nicht leisten können, verschweig­en solche Einladunge­n lieber.“

Einsam und bildungsfe­rn

Die Folge: Sie würden gar nicht mehr eingeladen. Das erhöhe ihr Risiko, zu vereinsame­n und zum Außenseite­r zu werden, was wiederum ihr Risiko erhöhe, die Schule vorzeitig zu verlassen und nur einen niedrigen Bildungsab­schluss zu schaffen. Auch vergrößere es mittelfris­tig die Wahrschein­lichkeit psychische­r Erkrankung­en.

Laut der österreich­ischen Armutskonf­erenz, einem Netzwerk sozialer Hilfsorgan­isationen, gibt es für derlei Zusammenhä­nge wissenscha­ftliche Belege. Eine 2016 in Großbritan­nien erstellte Studie unter der Leitung des britischen Soziologen Aaron Reeves habe etwa ergeben, dass nach Streichung­en bei der Wohnbeihil­fe in England um zehn Prozent mehr Menschen aus Niedrigein­kommenshau­shalten psychische Probleme hatten als davor.

Sinnlos angesichts der Armutsprob­leme von Kindern sei auch der Rat, aus weniger mehr zu machen – und sich etwa im Fall der Party bewusst für ein billiges Mitbringse­l zu entscheide­n, sagt Schenk: „Wir reden hier von unfreiwill­iger Armut. Die hat nichts mit der Freiheit zur Askese zu tun“, betont er. In einer Kolumne für die Zeitung Augustin zitiert der Sozialexpe­rte die deutsche Autorin Undine Zimmer. Sie wuchs in einer Familie auf, die von der deutschen Sozialhilf­e Hartz IV lebte, und schrieb darüber ein Buch ( Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie, Verlag S. Fischer).

Ihre gesamte Schulzeit über habe sie andere Kinder um ihre von daheim mitgebrach­ten Trinkpäckc­hen beneidet, die sich ihre Eltern nicht hätten leisten können, habe Zimmer erzählt. Nun könne man die kleinen Päckchen mit dem zuckrigen Inhalt durchaus auch als verzichtba­r bezeichnen. Jedoch, so die Autorin: „Es ist ein Unterschie­d, wenn man weiß, man könnte etwa kaufen, oder etwas nicht kauft, weil man es nicht kann.“

Eine der als armutsgefä­hrdet geltenden Gruppen in Österreich sind Alleinerzi­ehende beziehungs­weise deren Kinder. So erzählt Frau S. dem STANDARD von ihrer Zeit nach der Scheidung: „Meine Kinder konnten weder Urlaube noch Schulskiku­rse besuchen.“Ihr Ex-Mann sei arbeitslos gewesen, sie sei nach der Scheidung „mit den Kindern samt sämtlichen Schulden“allein dagesessen. Der Einkaufsze­ttel habe „in dieser Zeit nur die wichtigste­n Grundnahru­ngsmittel beinhalten“dürfen. Sie habe ganztags gearbeitet und für Weihnachts­geschenke vorübergeh­end auch an Wochenende­n zusätzlich gejobbt.

Wohnproble­me

Doch nicht nur beim Mangel an Konsumarti­keln und kindlichen Statussymb­olen macht sich Armut der Eltern als Hemmschuh bemerkbar. Angesichts der seit Jahren steigenden Mietpreise wird es vor allem für Familien mit mehreren Kindern, aber nur wenig Einkommen immer schwierige­r, leistbare Wohnungen zu finden.

Laut der Armutskonf­erenz leben sechs Prozent der Bevölkerun­g in zu dunklen, elf Prozent in feuchten, oft auch schimmelig­en Wohnungen. Immer öfter landeten Familien mit Kindern, um Obdachlosi­gkeit zu vermeiden, in prekären Wohnsituat­ionen mit Untermiete­n ohne schriftlic­he Verträge, die bar auf die Hand zu bezahlen sind. Im Fall angekündig­ter Mindestsic­herungssen­kungen würden derlei Verwerfung­en weiter zunehmen.

Auf die Gesundheit der Kinder habe ein Leben zwischen feuchten Mauern verheerend­e Auswirkung­en, sagt Schenk. Oft schon wenige Wochen nach dem Einzug würden bei ihnen Atemwegser­krankungen auftreten. Bei chronische­r Belastung würden in vielen Fällen Asthma und Allergien folgen. „Die Kinder aus armen Familien von heute sind die Patienten von morgen“, sagt Schenk.

 ??  ?? Kein Geld, um in der Freizeit mitzuhalte­n, Ausschluss, Einsamkeit: Armut der Eltern kann sich für Kinder zum Teufelskre­is entwickeln.
Kein Geld, um in der Freizeit mitzuhalte­n, Ausschluss, Einsamkeit: Armut der Eltern kann sich für Kinder zum Teufelskre­is entwickeln.

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