„Die Rohingya sind von einer schrecklichen Situation in die nächste schreckliche Situation geflohen.“
Über 600.000 Rohingya sind bereits aus Myanmar ins Nachbarland Bangladesch geflohen. Auf der anderen Seite des Grenzflusses erwarten sie heillos überfüllte Flüchtlingslager, in denen es an allem fehlt.
Care-Mitarbeiterin Jennifer Bose über die Lage der muslimischen Flüchtlinge aus Myanmar in Bangladesch
Cox’s Bazar / Wien – Es ist ein ganzes Volk, das auf einem schmalen Streifen Erde unterwegs ist: Menschenmassen fliehen seit über zwei Monaten aus Myanmar, waten zwischen überfluteten Reisfeldern durch Schlamm und Wasser, die Jüngsten auf den Schultern, ein wenig Hab und Gut in Plastiksäcken, die Schwächsten tragen sie in Körben ins Nachbarland.
Der Exodus der Angehörigen der muslimischen Rohingya-Minderheit im mehrheitlich buddhistischen Myanmar reißt nicht ab, seitdem die Armee Ende August ihre Offensive gegen sie gestartet hat. Laut Angaben von Hilfsorganisationen setzen Soldaten ganze Dörfer in Brand, über 400 Zivilisten wurden dabei getötet, hinzu kommen Berichte über Gewalt, Vergewaltigung und Folter. Vorangegangen waren dem Vorgehen des Militärs koordinierte Angriffe von Rohingya-Extremisten auf Sicherheitskräfte. „Die Situation scheint ein Musterbeispiel für ‚ethnische Säuberungen‘ zu sein“, befand der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Raad al-Hussein Mitte September.
Vor Ausbruch der Krise lebte rund eine Million Rohingya vor- wiegend in der nördlichen Region Rakhine. Inzwischen gehen Hilfsorganisationen davon aus, dass es nicht mehr allzu viele Dörfer geben dürfte, die die Soldaten abfackeln könnten. Tag für Tag gewährt Bangladesch weiterhin tausenden Rohingya die Einreise. Allein am 16. Oktober passierten innerhalb von nur 24 Stunden 12.000 die Grenze.
„Vollkommen einzigartig“
„Das ist die größte Massenfluchtbewegung in der Region seit Jahrzehnten“, konstatierte ein UN-Sprecher. Das war Ende September, inzwischen haben sich schon mehr als 600.000 Menschen nach Bangladesch aufgemacht. Am Mittwoch sprach der EUKommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz Christos Stylianides nach einem Besuch in Bangladesch von der „größten Flüchtlingskrise seit Jahrzehnten“, denn: „Das Ausmaß des Zustroms in einer so kurzen Zeit ist vollkommen einzigartig.“
Die Regierung bestreitet, für die Brandschatzungen verantwortlich zu sein. Jener Minister, der für eine etwaige Rückkehr der Rohingya verantwortlich zeichnet, konterte jüngst, diese würden sich viel mehr selbst auslöschen, um der Regierung zu schaden. Am Donnerstag reiste die De-facto-Regierungschefin Aung San Suu Kyi erstmals offiziell nach Rakhine.
Ob sie die zerstörten Dörfer besuchte, blieb unklar. Die Friedensnobelpreisträgerin hatte lange zu dem Konflikt geschwiegen und schließlich Menschenrechtsverletzungen eingeräumt, ohne das Militär, das in Myanmar alle Fäden zieht, auch nur einmal beim Namen zu nennen. Die Regierung betrachtet die Rohingya-Angehörige als illegale, staatenlose Einwanderer aus Bangladesch, obwohl sie schon seit Generationen im heutigen Myanmar leben.
Sie gelten als unerwünscht, in der Geschichte des Landes gingen buddhistische Mobs und Sicherheitskräfte immer wieder brutal gegen die Minderheit vor, was sie stets mit den immer wieder vorkommenden Überfällen militanter Rohingya gegen die Regierung begründen. Rechnet man zu den aktuellen die bereits früher Geflüchteten dazu, lebt mittlerweile gut eine Million Rohingya im südwestlichen Küstengebiet Bangladeschs. Die meisten behelfsmäßigen Flüchtlingslager im Grenzbezirk Cox’s Bazar sind derart überfüllt, dass die Neuankömmlinge dazu übergegangen sind, an deren Rändern Unterkünfte aus Blech und Plastikplanen zu errichten.
Die Flüchtlingslager Kutupalong und Balukhali sind so rasant gewachsen, dass unklar geworden ist, wo das eine anfängt und das andere aufhört, erzählt Jennifer Bose, die zwei Wochen für die Kommunikation und Berichterstattung der Hilfsorganisation Care in Bangladesch gearbeitet hat. Wer es nach Bangladesch geschafft hat, kommt im völligen Elend an. Es fehlt an allem: an Platz, Nahrung, Wasser, Medikamenten, sanitären Anlagen, Zelten. „Die Situation in den Camps ist katastrophal“, sagt Jennifer Bose im STANDARD- Gespräch.
Die Lager platzten aus allen Nähten, erzählt die Care-Mitarbeiterin, die vor wenigen Tagen zurückgekehrt ist: „Überall sieht man Menschen, Kinder, die knietief im Matsch stehen. Es stinkt nach Urin, Fäkalien, Müll.“Die NGOs kommen mit dem Impfen kaum nach, sie befürchten eine Cholera-Epidemie. Der Ausbruch von Krankheiten sei eine „tickende Zeitbombe“. „Die Rohingya“, sagt Jennifer Bose, „sind von einer schrecklichen Situation in die nächste schreckliche Situation geflohen.“pFeature auf dSt.at/Myanmar