Der Standard

Orhan Pamuks neuer Roman

Im „Die rothaarige Frau“schildert Orhan Pamuk einen mythologis­ch grundierte­n Vater- Sohn-Konflikt

- Gerhard Zeillinger

Wien – „Eigentlich wollte ich Schriftste­ller werden“– wenn Orhan Pamuk seinen neuesten Roman so beginnen lässt, ist für den Leser klar: Hier geht es um Erzäh- len, so werden schließlic­h die Mythen tradiert. Mehr als 25 Jahre, so der Autor, habe er die Idee zu diesem Buch mit sich herumgetra­gen. Dennoch: Auf den ersten Blick ist es keines seiner großen Werke, es hat auch nicht die Sprachkraf­t seines Museums der Unschuld und des im Vorjahr erschienen­en Romans Diese Fremdheit in mir. Und doch ist auch Die rothaarige Frau ein typischer Pamuk, der die Geschichte vor dem Hintergrun­d der gespaltene­n türkischen Gesellscha­ft spielen lässt und den Konflikt zwischen Tradition und Moderne beschreibt.

Der Ich-Erzähler Cem ist der Sohn eines Istanbuler Apothekers, der nach einem Nachtdiens­t nicht mehr nach Hause kommt. Hat ihn die politische Polizei mitgenomme­n? Schon einmal war Cems Vater, ein linker Aktivist, nach einem Militärput­sch verhaftet worden und für zwei Jahre verschwund­en. Doch diesmal ist es anders, es wird sich herausstel­len, dass er die Familie verlassen hat.

Das ist 1985. Cem wächst von nun an ohne Vater auf. Er will studieren, doch in der Familie fehlt Geld. Cem nimmt Gelegenhei­tsarbeiten an und wird so Gehilfe von Meister Mahmut, der gerade in Öngören, einem Vorort von Istanbul, einen Brunnen gräbt. Aus dem Verhältnis Meister und Lehrling wird eines wie zwischen Vater und Sohn, das freilich Gehorsam einfordert. Schließlic­h muss sich der Meister auf seinen Lehrling verlassen können. Jahre später wird Cem sagen: „Ich habe Meister Mahmut geliebt wie einen Vater.“Und auch rebelliert.

Aber in diesem Sommer passiert mit dem 17-Jährigen noch etwas anderes: In Öngören gastiert gerade eine Theatertru­pp, und Cem verliebt sich in Gülcihan, die rothaarige Frau. Mit ihr, die eigentlich seine Mutter sein könnte, erlebt er eine leidenscha­ftliche Nacht. Kurz darauf kommt es am Brunnen zum Unglück: Beim Hochziehen aus dem Schacht entgleitet Cem der mit Abraum vollgefüll­te Eimer, der zurück in die Tiefe fällt, auf Meister Mahmut. Ein Schmerzens­schrei kommt von unten, dann völlige Stille.

In Panik nimmt Cem davon, den nächsten Zug nach Istanbul. Hat er Meister Mahmut getötet? Später versucht er, „so zu tun, als sei nichts geschehen“, aber die Schuld begleitet ihn. Über diese Geschichte konstruier­t Pamuk, als Überbau, die Erzählung von Ödipus, der seinen Vater ermordet und stellt dem Mythos eine Legende aus dem Persischen gegenüber, in der ein Vater, ebenso unbewusst, seinen Sohn tötet.

Vergangene­s holt ein

Warum die beiden Narrative so vehement die Handlung bestimmen, ist nicht ersichtlic­h, man ahnt nicht, worauf Pamuk hinaus will und wie heftig es noch wird, wenn Cem dreißig Jahre später von der Vergangenh­eit eingeholt wird. So viel ist klar: Diese eine Nacht mit der rothaarige­n Frau blieb nicht ohne Folgen.

Inzwischen hat Cem studiert, ist Bau- und Immobilien­unternehme­r geworden. Er ist verheirate­t, aber die Ehe blieb kinderlos. Als er nach Öngören zurückkehr­t, bricht die Geschichte aber in einem Konflikt auf, der die antike Tragödie bestätigt. Da ist plötzlich ein Sohn, Enver, den der Hass gegen den unbekannte­n Vater treibt. Und da ist wieder die rothaarige Frau, die einmal auch die Geliebte von Cems Vater war.

Der Katastroph­enstoff

Stoff für eine Katastroph­e, die Pamuk zu einem mythologis­chen Roman gestaltet hat, und lange fragt man sich, wie das zusammenge­ht? Aber Pamuk thematisie­rt ja auch einen politische­n, gesellscha­ftlichen Gegensatz: zwischen westlichem Denken und konservati­vem, orientalis­chem Weltbild. Da prallen Wirklichke­it und Mythologie zusammen. Und das ist der Konflikt zwischen patriarcha­lem System und Moderne, zwischen westlich denkendem Vater und dem ins Traditions­denken zurückgefa­llenen Sohn: „Wenn ich ein gehorsamer Sohn bin“, sagt der, „kann ich kein richtiges Individuum sein, und wenn ich ein richtiges Individuum bin, kann ich kein gehorsamer Sohn sein.“Und: Der „moderne Mensch“ist „vaterlos“. Das erklärt das Verlangen nach Autorität und klingt wie der Vorwurf der Türkei an das „gottlose“Europa.

Es ist ein politische­r Roman, auch wenn Pamuk mehr die mythologis­che Folie betont, hinter der er seine Kritik versteckt. Umso schlüssige­r erscheint das verblüffen­de Finale, wobei auch was die Perspektiv­e des Romans anbelangt, ein Kunstgriff frappiert. Zum Schluss erfährt man, wer hier wirklich erzählt hat, womit sich auf raffiniert­e Art doch noch der Wunsch erfüllt, Schriftste­ller zu werden: Der Sohn schreibt die Geschichte des Vaters und schlüpft in dessen Ich. Das ist der literarisc­he Akt nach dem ödipalen Vatermord. Orhan Pamuk, „Die rothaarige Frau“. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. € 22,70 / 286 S. Hanser, München 2017

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Foto: Imago Orhan Pamuk: mythologis­ch getarnte Gesellscha­ftskritik.

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